Sechs Gründe, warum die Deutsche Bahn an sich selbst scheitert

Am Donnerstag will der DB-Aufsichtsrat die Konzernführung neu sortieren. Dabei scheitert die Bahn längst nicht nur am überforderten Spitzenpersonal.

Wer sich heute in einem überfüllten Nahverkehrszug quetscht oder auf einen verspäteten ICE wartet, kann es sich schwer vorstellen: Die Bahnreform galt einst als großer Erfolg. Bundesbahn (West) und Reichsbahn (Ost) sind seit 1994 eins. Statt überschuldeter Behörden entstand damals eine entschuldete Aktiengesellschaft. Die Deutsche Bahn AG sollte endlich wieder mehr Menschen und Güter transportieren und Fahrt Richtung Börsengang aufnehmen.

„Eines der größten und erfolgreichsten Reformprojekte im wiedervereinigten Deutschland“ lobte noch 20 Jahre später der damalige Bahn-Chef Rüdiger Grube, die Bahnreform. Und Angela Merkel (CDU) erklärte 2013, „die Weichen“ seien „richtig gestellt“ worden. Die damalige Bundeskanzlerin beschwor „verlässliche Rahmenbedingungen“ und ausreichend Steuergeld, „um den Schienenverkehr stets an den Kundenbedürfnissen ausrichten und mehr Verkehr auf die Schiene bringen zu können“.

Deutsche Bahn: Konzernführung soll neu sortiert werden
Und heute? 2020 lag der Marktanteil der Bahn AG im Personenverkehr mit 6,5 Prozent so niedrig wie zum Start der Bahnreform. Nicht besser sieht es im Güterverkehr aus: 17,9 Prozent der Güter erreichten ihr Ziel über die Schiene, 1994 waren es 17,8 Prozent. Der Verkehr wächst gewaltig. Die Bahn wächst zwar mit, sie kann aber weder dem Lkw noch dem Schiff Marktanteile abluchsen.

Die Verschuldung des Staatskonzerns liegt heute wie 1993 jenseits der 30 Milliarden Euro. Der Bund investiert Jahr für Jahr Milliarden ins Netz und zusätzlich noch in den Regionalverkehr, den die Länder ausschreiben und mit Bundesmitteln finanzieren. Allein für diese beiden Leistungen müssen die Steuerzahler rund 24 Milliarden Euro pro Jahr berappen. Doch es scheint, als versickerten die Milliarden rückstandsfrei in den Tiefen des Schotterbetts.

Zahlreiche Webfehler im System Bahn sorgen dafür, dass immer weniger Züge pünktlich fahren, Gütertransporteure den Glauben an die Bahn verlieren und angesichts des Chaos auf dem Schienennetz wieder auf den Lkw umsteigen. Wenn am Donnerstag dieser Woche der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn zusammentritt, müsste er sich eigentlich ehrlich eingestehen, dass die Bahn so nicht weitermachen kann.

Sechs grundlegende Probleme sind es, die einen Erfolg des Staatsunternehmens verhindern.

Systemfehler 1: Schienennetz und Betrieb liegen bei Deutscher Bahn in einer Hand
Ohne Effizienz im Bahnnetz laufe nichts, stellt Verkehrsberater Gottfried Ilgmann fest. „Also muss dort angesetzt werden.“ Auch Bahn-Chef Richard Lutz ist sich dessen bewusst: „80 Prozent der Qualität des Eisenbahnsystems entscheiden sich auf dem Schienennetz“, sagt er. Doch das Netz wurde lange Zeit nur auf Wirtschaftlichkeit getrimmt, anstatt mehr Platz auf den Schienen zu schaffen. Ausweichstrecken, Überholweichen, Tausende Kilometer Gleise: stillgelegt. Seit Jahren ist das Netz in einem desolaten Zustand.

Bereits vor 20 Jahren hatte die Bahn auf einer Deutschlandkarte 16 Problemzonen im Schienennetz diagnostiziert. Kürzlich präsentierte Bahn-Chef Lutz ein Update: Immer noch gibt es dieselben „Kapazitätsengpässe“ im Raum Hamburg, Hannover, Düsseldorf, im Rheintal, in Stuttgart und München.

3500 Kilometer sollen es aktuell sein, bis 2030 rechnet die Bahn mit fast dreimal so vielen Kilometern. Lutz forderte pflichtschuldig mehr Geld vom Eigentümer Bund und kündigte an, die „Hochleistungsstrecken“ mit einem besseren Baustellenmanagement sanieren zu wollen – ab 2024.

Die zentralen Korridore sollen dann für mehrere Monate geschlossen und auf einen Schlag generalsaniert werden, damit dann auf Jahre Ruhe herrscht. Die bisherige scheibchenweise Sanierung während des laufenden Betriebs gilt angesichts des Kollapses auf dem Netz als gescheitert. Es ist eine späte Erkenntnis der Bahn-Manager.Eine mögliche Erklärung für das lange Festhalten an Althergebrachtem: Die Hoheit über das Schienennetz obliegt dem bundeseigenen Bahn-Konzern und seiner Sparte DB Netz. Die Sparte DB Fernverkehr tritt als Quasi-Monopolist auf, DB Cargo und DB Regio dominieren im Güter- und im Regionalverkehr. „Weil die institutionelle Trennung fehlt, gibt es auch keine klaren Verantwortlichkeiten der Institutionen“, kritisiert Bahnexperte Ilgmann. „Das System muss aus sich heraus motiviert sein, Fehler zu heilen.“

Soll heißen: Wenn klar wäre, dass die DB Netz ausschließlich dafür verantwortlich ist, allen Bahn-Unternehmen ein möglichst perfektes Netz zur Verfügung zu stellen, dafür vom Staat das nötige Geld erhielte und sich das Management an diesem Ziel messen lassen müsste, hätte womöglich auch das Baustellenchaos ein Ende.

Systemfehler 2: Es mangelt an Wettbewerb, insbesondere im Fernverkehr
Bis heute ist der Wettbewerb auf der Schiene nicht richtig vorangekommen. Allein im Güter- und Regionalverkehr haben sich weitere Unternehmen etabliert, nicht aber im Fernverkehr. „Wir müssen die Strukturdebatte führen“, fordert Neele Wessel, Vizegeschäftsführerin beim Netzwerk Europäischer Eisenbahnen (NEE).

Die DB Netz als Infrastrukturbetreiber sei allein auf Gewinn gepolt und gehe nicht auf die Bedürfnisse der Kunden ein. Bedürfnis heißt: zu jeder Zeit fahren zu können, auch wenn es Baustellen gibt. Die Realität aber sieht so aus: Auf dem Schienennetz kommt es spontan zu Vollsperrungen, es fehlen gute Ausweichstrecken. Kleinere Anbieter kommen schnell in Existenznöte.

„Mit der Ausgliederung der Transportsparten als letzte Stufe der Bahnreform wären drei mächtige unabhängige Wettbewerbsbranchen auf der Schiene entstanden: für Güter-, Nah- und Fernverkehr“, erinnert Verkehrsberater Ilgmann an den ursprünglichen Plan: „Die drei wären als Kunden des Netzes auf die Barrikaden gegangen, wenn die DB Netz Überholgleise abbaut und die Instandhaltung der Infrastruktur kürzt, um Gewinne vorzutäuschen.“

Auch ein Projekt wie Stuttgart 21 wäre dann wohl gescheitert, weil es keine strategische Bedeutung für den Schienenverkehr habe, aber auf Jahrzehnte hinaus horrende Steuermittel benötige. Das Geld wäre etwa viel besser angelegt, um die Engpässe im Eisenbahnknoten in Frankfurt zu lösen. „Diese Knoten beschränken heute am stärksten die Kapazität des Schienenverkehrs und sind die bedeutendste Ursache für Verspätungen“, sagt Ilgmann.

Systemfehler 3: Das System Schiene ist komplex und stark reguliert
Der Bahn-Konzern ist noch immer so strukturiert, als würden seine Transportsparten an die Börse streben. Diese Pläne sind aber längst passé. Unter dem Dach der Deutschen Bahn AG befinden sich dennoch weiterhin mehrere Aktiengesellschaften und unzählige Beteiligungen. Es herrscht ein Geflecht aus Zuständigkeiten und Berichtswegen, das Verantwortungslosigkeit produziert. „Die Bahn hat ihre Prozesse nicht im Griff“, berichtet ein ehemaliges Vorstandsmitglied. Sei es der Vertrieb oder die Bereitstellung von Zügen – es gebe keine Abstimmung. Wohin Geld fließe, sei kaum nachzuvollziehen.

Alles das trifft auf eine regulatorische Komplexität, die selbst Bahner zuweilen überfordert. Soll etwa eine Strecke gesperrt werden, muss DB Netz dafür bei allen Kunden, also auch den Wettbewerbsbahnen, eine Genehmigung einholen. Immer wieder mal wird das aber vergessen. Ein großes Problem, denn die Baufirma ist dann schon bestellt.

Oder aber die Bahn braucht für die Modernisierung und den Ausbau einer Strecke mehr Gelände und muss dafür bei den Grundstückseigentümern um Erlaubnis fragen – zum Beispiel bei Landkreisen. Einige reagieren zügig, andere sind äußerst träge, was den Bau verzögert. Dreh- und Angelpunkt aber ist die mit der Bahnreform entstandene Genehmigungsbehörde, das Eisenbahnbundesamt. Seine Beamten geben Sicherheitsregeln vor, zertifizieren, kontrollieren, lassen zu, ob nun Züge oder Anlagen und Strecken.

Das System Schiene sei viel zu komplex, beklagt Bahnexpertin Wessel vom NEE. Auf der Straße benötige ein Transporteur nur einen Lastwagen und einen Fahrer mit Führerschein. Bei der Bahn indes fehlten die Fachleute, die sich mit dem „Bürokratiemonster Schienenverkehr“ auskennen. Bis alle Vorgaben erfüllt seien, kutschierten längst Lastwagen die Güter durch Europa.

Systemfehler 4: Gewerkschaft EVG ohne Reformwillen
Zudem verhindern mächtige Arbeitnehmervertreter bei der Bahn mögliche Änderungen. „Ohne die EVG geht gar nichts“, klagt ein Aufsichtsrat. Dies gilt in dem Kontrollgremium, dies gilt aber auch in der Politik. Seit der Bahnreform 1993 verhindert die Eisenbahngewerkschaft EVG im engen Schulterschluss mit der SPD und dem Bahn-Vorstand ein Reformziel: die institutionelle Trennung des Schienennetzes vom Rest des Konzerns.

Die früheren CSU-Verkehrsminister scheuten den Konflikt mit der EVG ebenso wie der heutige FDP-Verkehrsminister Volker Wissing. Mit Berthold Huber, bisher Vorstand für den Personenverkehr, soll nun ein altgedienter Bahner Chef einer neu zugeschnittenen Infrastruktursparte werden. Dabei hatten sich viele in der FDP für diesen Schlüsselposten eigentlich einen gestandenen „Infrastrukturmanager“ jenseits der Bahn gewünscht, gern aus der Luftfahrt.

Doch offenkundig kann sich FDP-Minister Wissing nicht durchsetzen, zumindest hat er keine Alternative gefunden. Und so gibt es eine Rochade im Konzern, was manche ehemaligen Bahn-Vorstände als „Kotau“ des Ministers vor der Bahn werten.

Am 22. Juni wird der Aufsichtsrat über die politisch vorbereitete Personalie entscheiden, Vorstand samt Nachrücker aus dem eigenen Konzern. Bei Ludolf Kerkeling, Vorstandsvorsitzender der Güterbahnen im Verband NEE, schwindet die Hoffnung, dass sich die Lage im System Schiene bessert. Niemand von außen werde „Impulse in die Selbstregulierungs-Blase der DB hineintragen“.

Kerkeling hatte kurzzeitig auf die zwischen den Ampelkoalitionären vereinbarte neue und gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft gesetzt. Sie soll Anfang 2024 ihre Arbeit aufnehmen. Doch sie wird auch nur ein Kompromiss sein.

Eigentlich wollten die Grünen – und mit ihnen die FDP – umsetzen, was der bahnpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Matthias Gastel, in der vergangenen Wahlperiode vorgeschlagen hatte: „Die Infrastruktur wird an eine bundeseigene Infrastrukturgesellschaft ohne Gewinnerzielungsabsicht überführt und langfristig und verlässlich finanziert“, hieß es in seinem Strategiepapier für die Bahn. Der Bund wäre direkt verantwortlich für das Netz und könnte dafür sorgen, dass die Gesellschaft so viel Verkehr wie möglich aufs Netz bringt.

Doch bei den Koalitionsverhandlungen intervenierten EVG und SPD. Nun sollen DB Netz und die für Bahnhöfe zuständige DB Station und Service zwar in eine gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft zusammengefasst werden – aber zu 100 Prozent im Eigentum der Deutschen Bahn AG bleiben. Der Bund wird also weiterhin nicht bestimmen können, was mit dem Netz geschieht.

Dabei geht selbst dieser Schritt einigen zu weit: Lieber keine Veränderung als Veränderung in die falsche Richtung zu unterstützen lautet das Motto bei den Arbeitnehmervertretern. Schließlich könnte die Infrastruktursparte eines Tages doch noch aus dem Konzern herausgelöst werden.

Systemfehler 5: Eigentümer der Deutschen Bahn ohne Plan
Weil es viel zu eng auf dem Netz geworden ist, will Verkehrsminister Wissing zumindest eine „Beschleunigungskommission“ einsetzen. Sie sollte eigentlich schon seit April ermitteln, wie mit schnellen Maßnahmen im Netz mehr Züge fahren können. Doch der Minister sucht dazu europaweit einen Moderator, der die Bahn, die Konkurrenten und die Bauwirtschaft an einen Tisch bringt. In diesem Monat könnte es endlich so weit sein.

Doch auch die Arbeit einer Kommission braucht Zeit. Sie einzusetzen sei ein erneuter Beleg für das mangelnde Vertrauen des Bundes in seinen Staatskonzern, wie Beobachter sagen. Andere kritisieren an diesem Runden-Tisch-Ansatz den fehlenden politischen Gestaltungswillen, am besten verbunden mit einem gesellschaftlichen Konsens, was das Unternehmen leisten soll.

Noch 2013 sollte die Bahn laut Angela Merkel ein „international führendes Dienstleistungs-, Logistik- und Verkehrsunternehmen“ sein. Statt ihren deutschen Heimatmarkt in den Griff zu kriegen, expandierte die Bahn weltweit. Und heute? Soll die Bahn als Klimaretter für die Politik einspringen – gemeinwohlorientiert. Aber unter dem Dach einer Aktiengesellschaft. Sarah Stark, Eisenbahnexpertin beim Deutschen Verkehrsforum, fragt zu Recht: „Was will die Politik eigentlich mit der Bahn?“

Systemfehler 6: Keine klaren Verantwortlichkeiten bei der Deutschen Bahn
Ohne Antwort auf diese Frage läuft es weiter wie bisher: Der Bund zeigt auf die Bahn, wenn es auf dem Netz nicht läuft. Die Bahn zeigt auf den Bund und sagt, es fehle das Geld, um zu investieren. Die Wettbewerber klagen, dass die Bahn-Tochter DB Netz sich nicht um ihre Kunden schert, sondern unkoordiniert und chaotisch baut und so den Kollaps auf dem Netz provoziert.

Die Bahn verweist auf den Investitionsstau. Der Bahn-Chef spricht von „Wachstumsschmerzen“, bei der eigenen Güterverkehrssparte DB Cargo hingegen reden sie von „Schrumpfungsschmerzen“: Weil nichts mehr auf dem Netz geht, müssen Hunderte Züge jeden Tag ungeplant stehen bleiben, erreichen Waren nicht ihre Ziele.

Die Kunden suchen das Weite – obwohl sie gerne mehr Güter auf der Schiene transportieren würden. Und im Personenverkehr stöhnen die Kunden über unpünktliche Züge und gammelige Bahnhöfe.

Quelle:
Handelsblatt

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