In der Containerschifffahrt herrscht die Ruhe vor dem Sturm

Der Aktienmarkt war unerbittlich: Unmittelbar nachdem Nike kürzlich die Quartalszahlen für das erste Fiskaljahr 2023 (Periode von Anfang Juni bis Ende August) präsentiert hatte, stürzten die Papiere des US-Sportartikelherstellers um bis zu 15 Prozent ab. An den Finanzzahlen hatte es nicht gelegen. Mit einem Umsatzplus von 4 Prozent gegenüber dem Vorjahresquartal, einer Rohertragsmarge von 44,3 Prozent und einem Quartalsgewinn von 1,5 Milliarden US-Dollar konnten die Manager durchaus zufrieden sein.

Doch die eigentliche Nachricht, die die Anleger in Panik versetzte, hatte sich im Kleingedruckten versteckt: So war der Wert des weltweiten Lagerbestands gegenüber dem Vorjahresquartal um gleich 44 Prozent gestiegen auf rund 9,7 Milliarden Dollar; das Plus bei den in US-Lagern vorgehaltenen Nike-Artikeln lag sogar bei 65 Prozent. Mit 85 Prozent am dramatischsten stieg jedoch der Wertanteil des Lagerbestands, der für Zweit- und Großhändler in den USA bestimmt war.

Bedenklicher Trend
Würde sich die Nachricht auf Nike beschränken, wäre sie kaum der Rede wert. Doch das Unternehmen ist kein Einzelfall. Der Lagerbestandswert im US-Einzelhandel hat sich laut den aktuellsten Zahlen von Juli im Jahresvergleich um rund 20,6 Prozent erhöht; über alle US-Branchen hinweg beträgt das Plus 17,8 Prozent.

Auf den ersten Blick ließe sich unbefangen sagen, dass US-Unternehmen einfach nur immer mehr Kapital außerhalb ihrer eigentlichen Wertschöpfung einsetzen müssten in verkaufsfördernde Maßnahmen und Umsatzverluste wegen drastischer Preisnachlässe hinzunehmen haben, um ihre Lagerbestände überhaupt losschlagen zu können. Doch die Sache ist komplizierter.

Das Phänomen übervoller Lager hat längst auch den EU-Binnenmarkt erfasst, den bezogen auf die jährliche Wirtschaftsleistung von mehr als 12 Billionen Euro größten einheitlichen Markt der Welt. Im Zeitraum von 1995 bis einschließlich Juli 2022 betrug laut Eurostat der durchschnittliche Wertzuwachs pro Quartal 16,8 Milliarden Euro bei den von europäischen Unternehmen vorgehaltenen Lagerbeständen.

Das Jahr 2022 weicht extrem von diesem Wert ab: In den beiden ersten Quartalen des laufenden Jahres überstiegen die jeweiligen Wertzuwächse mit knapp 88 Milliarden Euro (Q1) sowie 84,6 Milliarden Euro (Q2) gegenüber den jeweiligen Vorjahresquartalen den Langzeitwert um mehr als das Fünffache. Die beiden jüngsten Quartale markieren gleichzeitig historisch hohe Werte.

Beunruhigende Botschaft für die Schifffahrt
Die in den großen westlichen Wirtschaftsräumen überquellenden Lager sind Symptome einer vielschichtigen Gemengelage von Faktoren, die allesamt auf sich derzeit verändernde Rahmenbedingungen im Welthandel hinweisen.

Diese Entwicklungen schlagen unmittelbar auf die Containerschifffahrt durch: „Wir erleben derzeit eine Abkühlung der Weltwirtschaft und damit einhergehend eine sinkende Nachfrage nach chinesischen Exporten in Europa und Nordamerika“, sagt Clemens Schapeler, Head of Ocean Market Intelligence von Transporeon. Mit der immer mehr zu beobachtenden Entspannung der Wartezeiten vor den Häfen würden bisher gebundene Kapazitäten zudem zunehmend wieder freigesetzt.

So ist die Quote der Flottenkapazität, die im Hafen oder auf Reede liegt, laut dem britischen Schiffsmakler Clarksons Platou Anfang Oktober auf 33,9 Prozent gefallen. Im Jahr 2021 hatte der Wert durchschnittlich 34,9 Prozent betragen. Laut der britischen Marktforschungsfirma Container Trades Statistics (CTS), die ihre Daten direkt von den Linienreedereien bezieht, lagen die weltweiten Containerverladungen im August bereits um 4,2 Prozent niedriger als im Vorjahr.

Am stärksten fielen die Mengen auf den Strecken Richtung Europa (minus 8,3 Prozent) und Nordamerika (minus 6,7 Prozent). Für die ersten acht Monate ergibt sich laut CTS ein Rückgang von 1,6 Prozent gegenüber der entsprechenden Vorjahresperiode.

Aus der Speditionsbranche ist zu vernehmen, dass sich der Ladungseinbruch im September noch verschärft habe – ganz entgegen der gewohnten Saisonalität. „Die Lager für Konsumprodukte sind voll. Alle warten ab, keiner ordert mehr“, berichtet ein Dienstleister, der sich unter anderem auf Lieferungen von Aktionsware für Discounter konzentriert.

Besonders betroffen seien Konsumprodukte bis rund 150 Euro Warenwert wie Schuhe, Textilien und Elektroartikel, darüber hinaus auch bestimmte langlebige höherwertige Produkte wie Kühlschränke und andere weiße Ware. Insgesamt seien die Buchungen für Importladung aus Fernost über alle Kunden und Branchen hinweg im September um 12 bis 13 Prozent unter Vorjahresniveau gefallen.

Und die Verbraucherstimmung verschlechtert sich weiter. So erreichte das HDE-Konsumbarometer im Oktober mit 84,14 Punkten erneut ein Allzeittief. In der ersten Pandemiewelle im Frühjahr 2020 fiel es nur auf 90,53 Punkte ab.

Die Containerreedereien trifft die hartnäckige Nachfrageschwäche, die wegen der zugrunde liegenden negativen globalen Trends nicht von kurzer Dauer sein wird, umso härter, als sie in eine Phase fällt, in der die Kapazität im Zuge massiver Schiffsbestellungen absehbar stark zunehmen wird.

Denn die Menge georderter Stellplatzkapazität hat zum dritten Quartal des laufenden Jahres mit 7,36 Millionen TEU den seit 15 Jahren gültigen Rekordwert überschritten. Dies ergibt die Analyse von Daten des Marktforschers und Beratungsunternehmens Braemar.

Im vierten Quartal 2007, in das der Beginn der Weltfinanzkrise fällt, hatte die von Carriern bestellte Tonnage die historische Marke von 6,86 Millionen TEU erreicht. Der Anteil der bestellten an der bestehenden Kapazität (Orderbook to Fleet Ratio) liegt mittlerweile bei 30 Prozent; das ist gegenüber dem Vorjahresquartal ein Plus von rund 8 Prozentpunkten sowie eine Verdreifachung im Vergleich mit 2020.

Position der Verlader wird stärker
So verändern sich die Vorzeichen dramatisch, die in den vergangenen zwei Jahren vorherrschten: Während die Containerreedereien, vor allem 2021 und 2022, im Zuge von extremer Nachfrage, knapper Kapazitäten und haushohen Frachtraten goldene Zeiten erlebten und historisch hohe Gewinne erzielten, wendet sich die Lage immer mehr zugunsten der verladenden Wirtschaft.

Aktuell werden die Ladungsmengen noch durch Bestellungen für Industrieprodukte, Halbwaren und Rohstoffe gestützt, weil das verarbeitende Gewerbe nach den Lieferkettenengpässen der letzten zwei Jahre noch dabei ist, seine Vorräte aufzustocken. Aber auch dort verschlechtert sich das Geschäftsklima zusehends.

Der weltweite Einkaufsmanagerindex von J.P. Morgan und S&P für das verarbeitende Gewerbe rutschte im September mit 49,8 Punkten unter die neutrale Schwelle von 50. Sehr stark gab die Kennzahl für „neue Exportaufträge“ nach, aus denen sich das See- und Luftfrachtgeschäft speist: von 47,0 auf 45,9.

Denkbar schlechtes Timing
Besonders misslich für die Linienreedereien: Die schwächelnde Nachfrage trifft auf ein wachsendes Angebot an Laderaum. Noch bevor 2023 die große Ablieferungswelle für Schiffsneubauten einsetzt, schwillt die verfügbare Kapazität aufgrund von Produktivitätsverbesserungen an. Bei den Transportlaufzeiten sind bereits wesentliche Verbesserungen zu verzeichnen.

Laut der Spedition Flexport lag die durchschnittliche Laufzeit für Frachtgut auf der Strecke von Fernost nach Nordeuropa in der ersten Oktoberhälfte bei 93 Tagen, gegenüber 122 Tagen im April. Bis zum Frühsommer herrschte nach Einschätzung von Branchenanalysten noch Vollauslastung in der Linienschifffahrt.

Als Resultat der schwächeren Nachfrage und der verbesserten Umschlagproduktivität wächst der Anteil der leeren Stellplätze im Export aus Fernost seither stetig an, wie die Research-Firma Linerlytica aus Hongkong berichtet. Demnach tendiert die Auslastung der Schiffe ab dem letzten Ladehafen in China auf der Route nach Europa gen 85 Prozent, ostgehend nach Nordamerika sogar nur gen 80 Prozent.

Der rasante Verfall der Frachtraten in den vergangenen Monaten ist ein deutliches Indiz dafür, wie massiv der Druck aufgrund von Überkapazität ist. Der Shanghai Index SCFI, der die Spotraten auf 13 Routen ab Chinas größtem Containerhafen abbildet, fiel seit Jahresanfang um 64 Prozent von über 5.000 auf rund 1.800 Dollar/TEU.

Wenn der Trend anhält, ist das Ratenniveau in den kommenden Monaten zurück auf dem Durchschnittslevel von 1.000 Dollar/TEU vor der Corona-Pandemie. Dabei war es bis vor kurzem mehr oder weniger Konsens unter Carriern, Logistikern und Verladern, dass die Raten nie wieder auf ihr altes Niveau zurückkehren werden. Auf den traditionell schlechter ausgelasteten Backhaul-Routen ist dies bereits der Fall. Von Nordeuropa nach China können Kunden längst wieder zu Dumpingpreisen von 300 bis 400 Dollar/FEU buchen.

Kontrakte bergen mögliche Konflikte
Kurzfristig dürfte der Markteinbruch die Carrier noch nicht mit voller Wucht treffen, da sie den historischen Boom dazu genutzt haben, einen noch größeren Teil der Ladung in langfristiges Kontraktgeschäft zu verwandeln. Bei Maersk soll die Quote inzwischen bei 70 Prozent liegen. Ob die Kontrakte Bestand haben, ist jedoch die große Frage.

In früheren Zyklen haben Verlader und Spediteure im fallenden Markt häufig aufgehört, Ladung auf alten teuren Kontrakten zu buchen, und stattdessen neue Verträge verhandelt oder auf Spotbasis gebucht. Eine Ausnahme bildet Insidern zufolge der Transpazifik-Trade mit seinen strengeren Verträgen und Vereinbarungen zu Fehlfracht (Deadfreight) bei Unterschreiten der Mindestladungsmengen seitens der Kunden.

Nach Einschätzung von Hans J. Willam, Inhaber der Beratungsfirma Worldwide Consultants in Logistics (WCL), droht sich die Geschichte zu wiederholen. Er wisse von Fällen, in denen Großverlader auch diesmal zugesicherte Kontrakt-Ladungsmengen in den Spotmarkt gegeben hätten.

Vertragsstrafen in Kauf genommen
Ein anderer Marktinsider sagt, dass erste Kunden sich gegen Zahlung von Pönalen aus Kontrakten für Asien-Europa-Ladung herausgewunden hätten. „Denn Einsparungen, die sie daraufhin im Spotmarkt erzielen, übertreffen das Strafgeld um ein Vielfaches.“ Andere meinen, dass sich das Thema sowieso binnen weniger Monate erledigt haben dürfte: Viele Verträge liefen schon zu Jahresende aus, und durch Neuausschreibung in den kommenden Wochen und Monaten könnten die Kunden schon für 2023 Anpassungen auf niedrigerem Level erzielen.

Die Aussichten für das kommende Jahr spielen den Verladern sicher in die Karten. Die Welthandelsorganisation (WTO) geht für 2023 nur noch von einem Wachstum des Welthandels von 1 Prozent aus – allerdings nur wertmäßig; wie es volumenmäßig wird, bleibt abzuwarten.

Clarksons Platou geht bislang von einer Zunahme der Transportnachfrage um 1,7 Prozent (in TEU-Meilen) aus, warnt aber vor den Abwärtsrisiken. In jedem Fall wird der Flottenzuwachs das Ladungswachstum wohl erheblich übersteigen. Die für 2023 und 2024 zu erwartenden Neubauablieferungen sollen einen Umfang von mindestens 6 Prozent der in Fahrt befindlichen Kapazität haben.

Quelle:
DVZ

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