Deutschland: Die Digitalisierung der Schiene kommt nicht voran

Die Bundesregierung will das Bahnnetz modernisieren – für die Verkehrswende und mehr Klimaschutz. Doch es gibt gravierende Verzögerungen, die Branche ist verärgert.

Es soll eine schillernde Premiere werden: Mit viel Tamtam will Hamburg im Oktober die Zukunft auf Schienen freischalten. Erstmals werden dann mehrere S-Bahnen computergesteuert mit Passagieren durch eine deutsche Stadt rollen. Anfahren, bremsen halten – nicht mehr der Lokführer, sondern digitale Technik bringt die Fahrgäste ans Ziel. Auf einer 23 Kilometer langen Pilotstrecke sollen vier Züge im Rahmen eines globalen Mobilitätskongresses zeigen, was bei der Bahn technisch machbar wäre.

Eigentlich soll das nur der Vorbote eines Umbaus im ganzen Land sein. Bis 2030 werden nach Plänen der Bundesregierung schon Tausende Kilometer Schienennetz und viele Fahrzeuge digitalisiert hochgerüstet, bis spätestens 2040 dann das ganze 33 000 Kilometer lange Netz. Nur mit dem 32-Milliarden-Euro-Plan lassen sich auch die großen Ziele des Bundes mit der Bahn erfüllen. So soll sich die Zahl der Passagiere bis 2030 verdoppeln, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht.

Das Netz stößt schließlich vielerorts an Grenzen. An Bahnknotenpunkten wie Mannheim, Köln oder Frankfurt geht mit herkömmlichen Mitteln einfach nicht mehr Verkehr. Die digitale Aufrüstung könnte das ändern. Weil Behörden der Technik mehr zutrauen als dem Menschen, würde die Bahn digital gesteuert in engerem Takt fahren. Bis zu 35 Prozent mehr Züge könnten so auf dem gleichen Netz unterwegs sein – ohne dass der Konzern neue Gleise verlegen muss.

Doch statt Vorfreude wächst landauf, landab derzeit der Frust. Dem wichtigsten und teuersten Modernisierungsvorhaben der Bahngeschichte, das unter dem Titel „Digitale Schiene Deutschland“ läuft, drohen deutliche Verzögerungen. „Um es klar zu sagen: Wenn wir mit der Digitalen Schiene nicht viel schneller vorankommen, dann sind die Stärkung der Schiene und damit die Klimaziele im Verkehrssektor nicht zu erreichen“, sagt Heike van Hoorn, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrsforums (DVF), der Süddeutschen Zeitung. „Es wird Zeit, dass die Bundesregierung ihren Zielsetzungen auch die entsprechenden Taten folgen lässt.“

Das DVF gilt als einer der wichtigsten Wirtschaftsverbände und als wichtige Stimme des Verkehrssektors. In seinem Präsidium sitzt das Who’s who der Verkehrsmanager, darunter der Chef der Deutschen Bahn, Richard Lutz, aber auch die Chefs von Autokonzernen, Fluggesellschaften oder dem ADAC.

Bislang ist nur ein Prozent des Netzes umgerüstet
Mit der geplanten flächendeckenden Einführung des Zugsteuerungssystem ETCS – der Basis für den digitalen Verkehr – hat die Regierung nach eigenen Angaben 2015 begonnen. Weit gekommen ist sie in den vergangenen sechs Jahren nicht. Nach aktuellen Angaben sind nur 340 Kilometer umgerüstet – also ein Prozent des Netzes. Van Hoorn macht klar, was Bummeltempo bedeutet: „Die Digitalisierung der Schiene ist die Voraussetzung dafür, dass wir das Ziel der Verdoppelung der Fahrgastzahlen und mehr Güter auf der Schiene bis 2030 überhaupt schaffen können.“

Auch andere Insider schlagen Alarm. Es fehle an einer schlagkräftigen Führung und Planung durch das Bundesverkehrsministerium von Andreas Scheuer (CSU), heißt es aus Behörden, Ministerien und Unternehmen unisono. Verkehrsprognosen seien veraltet, Haushaltsfragen nicht geklärt. Als Beispiel gilt die Aufrüstung der Fahrzeugflotte, die die Signale des intelligenten Netzes empfangen können muss. Noch immer aber gebe es weder Vorgaben, was genau in Züge eingebaut werden solle, noch allgemeine Fördermaßnahmen. „Dabei ist die Finanzfrage für den Umbau entscheidend“, sagt Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen, dem Verband privater Güterbahnen. „Die Zeit läuft uns davon.“ Allein könne die Branche den Umbau angesichts knapper Margen gar nicht stemmen.

Werden Fahrzeuge jedoch nicht schon bei der Herstellung mit der Technik ausgerüstet, wird der Umbau zeitraubend und teuer. Für eine Nachrüstung wird ein Fahrzeug zwei Jahre aus dem Verkehr gezogen, der Einbau ab Werk dauert dagegen nur zwei Monate. Die Nachrüstung würde auch noch deutlich teurer. Weil rund 10 000 Schienenfahrzeuge eine neue Technik brauchen, geht es um viel. Um Jahre im Zeitplan und Milliarden für den Bundeshaushalt.

Das Verkehrsministerium verweist auf ein Modellprojekt in Stuttgart
Seit Langem mahnt die Branche schnelle Entscheidungen an, doch passiert ist wenig. Das Verkehrsministerium weist die Vorwürfe zurück. Kritik, das eigene Ressort bremse das Projekt, sei im Ministerium gar nicht bekannt, sagt ein Sprecher. Man komme voran, teilt das BMVI mit. So gebe es ein Modellprojekt in Stuttgart. Dort soll bis 2025 um den Hauptbahnhof tatsächlich ein erster digitaler Knoten entstehen. Doch mehr als solche Pilotprojekte werden bislang nicht konkret.

Der Opposition ist das viel zu wenig. „Bislang ist erst ein absurd kleiner Teil des Schienennetzes digital aufgerüstet“, sagt Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter der Süddeutschen Zeitung. „Es ist absolut notwendig, den Ausbau jetzt massiv zu beschleunigen.“ Damit die Züge auch digital unterwegs sein könnten, brauche man nicht nur Testfelder, sondern ganze Korridore. „Züge müssen von A nach B kommen. Alles andere bringt uns nicht weiter“, klagt Hofreiter. „Die nächste Regierung muss endlich schnell Entscheidungen treffen.“

Die Bahn äußert sich nicht zur Kritik, deutet aber auch an, dass sie ebenfalls auf eine Beschleunigung drängt: „Wir befinden uns in guten Gesprächen mit der Bundesregierung darüber, die Digitalisierung der Schiene von 2040 auf 2035 vorzuziehen“, sagt eine Sprecherin.

Dass es ein Nebeneffekt des Umbaus wäre, den streikbereiten Lokführern Macht zu nehmen, weist die Branche im Übrigen zurück. Lokführer würden weiter an Bord gebraucht – mindestens um die Technik zu überwachen und im Notfall eingreifen zu können. Auch beim Pilotprojekt in Hamburg sollen sie im Cockpit aufpassen, dass die Technik keine Fehler macht.

Quelle:
SZ

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