Ein „perfekter Sturm“ verhindert, dass Container in die Häfen kommen

Das Auf und Ab der Pandemie hat die Schlagader des Welthandels getroffen: Die Containerschifffahrt ist blockiert. Nur noch jedes dritte Schiff erreicht pünktlich seinen Hafen. Doch auch dort herrscht Chaos. Hamburg und Rotterdam werden von den großen Reedereien zeitweise gar nicht mehr angesteuert. Wann kommt Besserung?

1966 ist das Jahr, in dem Deutschland zum ersten Mal von einer großen Koalition regiert wird, in dem im niedersächsischen Uetze die letzte Handvermittlungstelle für Inlandstelefonate der Post schließt und in dem in Hamburg das erste mit Containern beladene Schiff fest macht.

Während Handvermittlung und Große Koalition tatsächlich Auslaufmodelle sind, wurden Container der Renner. Es gibt keine Entwicklung, die den weltweiten Handel so sehr verändert hat wie diese Schachtel. Denn bevor Seefahrer dazu übergegangen waren, ihre Waren in standardisierte Kisten zu verstauen, schufteten in den Häfen dieser Welt Schauerleute, die alles einzeln an Bord hievten. Die Kosten waren immens. Aber ausgerechnet diese Revolution im Handel droht nun an ihrem eigenen Erfolg zu ersticken.

Denn derzeit steht etwa jedes zehnte Containerschiff still. Und zwar nicht, weil es nichts zu tun gäbe. Sondern weil die anderen neun Schiffe vorher in der Schlange vor den Häfen standen und jetzt die Plätze zum Be- und Entladen blockieren. Die durchschnittliche Wartezeit für den Hafen von Los Angeles ist im Oktober auf 8,5 Tage gestiegen, im August waren es noch 7,6 Tage – und auch das war schon viel zu lang. Mehr als 55 Schiffe stauten sich zu Beginn des Monats an der kalifornischen Küste, vor Los Angeles und Long Beach. Aufgrund des extremen Andrangs gab es keine Ankerplätze mehr, so dass eine Rekordzahl von 17 Schiffen in sogenannten Driftzonen warten musste.

Alles steckt fest im Bauch der Schiffe
An den für Deutschland wichtigen Häfen Rotterdam und Hamburg sieht es kein Stück besser aus. Weil sich Handelsschiffe mit Ziel Hamburg bereits die Elbe hinunter bis in die Nordsee stauten, hatten manche Reedereien bereits im Sommer die beiden Häfen an der Nordsee aus ihren Fahrplänen gestrichen. Maersk und MSC steuerten stattdessen Terminals in Wilhelmshaven oder Bremerhaven an.

In Rotterdam das gleiche Bild: Die Reederei Hapag-Lloyd fährt den mit einem Umschlag von 14 Millionen Standardcontainern im Jahr größten Hafen Europas für Wochen nicht an. „Wenn man zuerst acht Tage warten muss in Korea, dann eine Woche in China und noch mal ein paar Tage in Singapur – und es dann auch noch mal vor Rotterdam nicht weitergeht, ja, dann kriegt man das Schiff natürlich nie rechtzeitig zurück“, sagt Reederei-Chef Habben Jansen und erklärt damit den Dominoeffekt, der derzeit die Weltwirtschaft ins Wanken bringt. Vom Computerchip bis zur Christbaumkugel – alles steckt fest im Bauch der Schiffe.

Und das Domino geht weiter. Stein um Stein kippt um. Container verstauben nicht nur in den Überseekähnen, sondern auch in den Häfen werden abfahrbereite Container nicht mehr abgeholt. Der Stau führt dazu, dass Binnenschiffer, die die Ware aus dem Landesinneren über Rhein und Elbe an die Seehäfen transportieren, ebenfalls viel Geduld mitbringen müssen.

Der Bundesverband der Binnenschiffer berichtet von Wartezeiten von bis zu einer Woche in Hamburg. All das ist nicht eingeplant. Nur 35 Prozent der Schiffe sind nach Angaben des Lieferkettenanalysten Sea-Intelligence noch pünktlich, zwei Drittel kommen zu spät. Wer auf Pünktlichkeit angewiesen ist, muss teure Premium-Angebote der Reedereien nutzen, was Transporte verteuert und nebenbei die Gewinne der Transporteure sprudeln lässt.

Das schwarze Loch der Container
Was sich da zusammengebraut hat, nennt Robin Jaacks den „perfekten Sturm“. Jaaks, 31 Jahre alt, studierter Politologe und Volkswirtschaftler, beherrscht das Geschäft mit den Verspätungen. Bis zum vergangenen Jahr war er Geschäftsführer von Ocean Insights, sammelte weltweit Daten in Echtzeit von Satelliten, Häfen und Reedereien und sagte so sehr genau vorher, wann welche Fracht, wo eintrifft – oder eben nicht ankommt. Inzwischen gehört das deutsche Startup zum US-Konzern Project44, der auch die Straßenlogistik entsprechend überwacht und Verspätungen voraussagt.

Seit Ausbruch der Pandemie herrscht bei den Verspätungsspezialisten Hochbetrieb. Corona brachte erst Angebot und Nachfrage durcheinander. Es gab ein Überangebote, das keine haben wollte. Und seit Corona abflaut, steigt die Nachfrage sprunghaft, und das Angebot kommt nicht hinterher. Seit dem Januar spielen die Daten verrückt. Die Zahl der „Blank Sailings“, worunter Reeder und Kapitäne jene Häfen verstehen, die sie aus Zeitgründen oder mangels Nachfrage bei ihren Routen einfach auslassen, schießt nach oben.

„Uns ist die Kinnlade runtergeklappt“, sagt Jaacks. Die Daten zeigten, dass sich von Asien ausgehend etwas zusammengebraut hat, was die Lieferketten sprengt. „Leider ist die globale Schifffahrtsbranche seit langem von manuellen Prozessen geprägt, die die Effizienz erheblich verringern, weil sie fehleranfällig und langsam sind“, sagt Jaacks.

„Angefangen hat es in Long Beach in Kalifornien, das war im April dieses Jahres“ berichtet er. Long Beach ist einer der Häfen, über den viele Waren von China aus in die USA gelangen. „Plötzlich standen Tausende von Containern voll mit Bekleidung und Schuhen irgendwo auf irgendwelchen Schiffen, die darauf gewartet haben, dass sie in den Hafen von Long Beach einlaufen können. Die bestellten Waren, sind also einfach nicht in den Shops angekommen. Kurz darauf konnte man sehen, wie der Börsenkurs von Nike richtig eingebrochen ist.“ Die USA wirkten gerade wie ein schwarzes Loch für Container. Viele versuchten, Waren in den USA zu schicken, die Container blieben aber dort, weil aus den USA kaum etwas exportiert werde und niemand die Kisten leer zurücksenden wolle.

Längst ist das Problem bei den deutschen Unternehmen angekommen oder genauer: Das Problem selbst besteht darin, dass nichts mehr ankommt. Gegenwärtig kämpft knapp jedes zweite der rund 3,8 Millionen kleinen und mittelgroßen Unternehmen hierzulande mit den Folgen von Lieferproblemen, hat eine Sonderbefragung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ergeben. Besonders stark betroffen ist das mittelständische Verarbeitende Gewerbe – vier von fünf Unternehmen beklagen hier, das nichts mehr ankommt. Schwierigkeiten gibt es nicht nur bei Mikroprozessoren, auch einfache Steuerungselemente fehlen, genauso wie Stahl, Aluminium, Kupfer und andere Metalle, Kunststoffe und Verpackungsmaterialien oder auch Holz für die Bau- und Möbelindustrie.

Container: Oft nicht da wo man sie braucht
Bei der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd geht man davon aus, dass sich die Lage in der Containerschifffahrt frühestens im ersten Quartal 2022 wieder normalisieren könnte. „Wir tun, was wir können“, sagte ein Sprecher. Angesichts des Wirtschaftswachstums habe man neue Container und neue Schiffe bestellt. Aber auch da herrschen Lieferengpässe und neue Schiffe zu bauen dauert lang.

Die Containerknappheit zwingt die Hamburger zu einer ungewöhnlichen Aktion: Offenbar gibt es noch immer Container, die irgendwo vergessen werden – wie ein Regenschirm bei schönem Wetter. Hapag-Llyod will Erinnerungslücken schließen: „Wartet Ihr Container noch immer darauf, in Deutschland abgeholt zu werden?“, fragt die Reederei auf ihrer Webseite „In der Hektik des Alltags vergessen wir manchmal auch große Gegenstände wie Container“, heißt es verständnisvoll weiter.

Die Reederei würde sich freuen, wenn die Altcontainer so schnell wie möglich abgeholt würden, um weitere Terminalüberlastungen zu vermeiden. Dabei ist ihr schon klar, dass das mit dem Abholen nicht so einfach ist: „Wir sind uns der Kapazitätsengpässe bei der Verbringung von Containern aus den Terminals und Häfen bewusst“, schreibt Hapag-Lloyd weiter. Es solle aber „mit Ihren örtlichen Kundendienstteams“ aktiv nach Möglichkeiten gesucht werden.

Klar wird: Container sind eine gute Erfindung. Sie haben nur aktuell einen Nachteil, den Verspätungsspezialist Jaacks so beschreibt: „Die Eigenschaft von Containern ist, dass sie oft nicht da sind, wo man sie gerade braucht.“

Quelle:
Focus

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