Protest der Wolt-Rider: Hunderttausende Euro offene Löhne und niemand will verantwortlich sein

Der Lieferdienst Wolt ist nun auch in Deutschland von Protestaktionen betroffen. 120 Fahrerinnen und Fahrer fordern in Berlin mehrere hunderttausend Euro Lohn von einem unbekannten Subunternehmer.

Rider Samee spannt einen Spruchbanner vorne über seinen roten Kleinwagen. „Solidarity with all striking workers“ steht darauf. Er setzt seinen Wagen in Bewegung, vor ihm radeln schon etwa 30 Demonstrantinnen und Demonstranten von Berlin-Neukölln auf die andere Seite der Spree nach Friedsrichshain. Ihr Ziel ist die Unternehmenszentrale des finnischen Lieferdienstes Wolt. Viele haben ihre blauen, würfelförmigen Rucksäcke aufgeschnallt. Auch ein paar orangene Lieferando-Jacken und ein UberEats-Rucksack sind zu sehen, die Teilnehmer wollen Solidarität zeigen.

Ihre protestierenden Kolleginnen und Kollegen werfen Wolt vor, seit November kein Geld mehr an 120 ausländische Angestellte gezahlt zu haben. Die Forderungen belaufen sich auf mehrere hunderttausend Euro. Viele der sogenannten „Rider“ seien außerdem nicht bei Wolt direkt beschäftigt, sondern bei Subunternehmern. Dort würden sie „nicht nur deutlich unter Mindestlohn verdienen, sondern auch oft mit Lohnraub und Betrug konfrontiert“, heißt es in einem Aufruf, der in den vergangenen Tagen in den sozialen Online-Netzwerken verbreitet wurde. Darin fordern die Wolt-Fahrerinnen und -Fahrer ein „Ende des ausbeuterischen Subunternehmer-Systems“ und feste Anstellungen.

Steckt hinter einem Elektro-Laden in Neukölln Wolts Subunternehmer?
„Bei mir sind Löhne von 3100 Euro offen“, sagt Muhammad, der den Protest mit organisiert hat. „Das ist ungefähr der Durchschnitt, bei manchen ist es auch mehr.“ Muhammad kommt aus Pakistan. Er trägt eine blau-schwarze Jacke mit dem geschwungenen Wolt-Schriftzug, auf dem Kopf sitzt noch sein Fahrradhelm. Die meisten der betroffenen Fahrerinnen und Fahrer kämen aus Pakistan, Indien und der Türkei, berichtet er. Viele davon würden studieren und seien zwischen 20 und Mitte dreißig. Manche seien heute nicht gekommen, aus Angst erkannt zu werden. Im November, Dezember und Januar hätten sie keinen Lohn bekommen, einige hätten nicht einmal richtige Verträge.

Hintergrund ist die mutmaßliche Zusammenarbeit von Wolt mit einem Kleinunternehmen namens „Mobile World“ an der U-Bahn-Station Karl-Marx-Straße in Berlin-Neukölln. Mit gläsernen Vitrinen voller Smartphones, Laptop-Adaptern und Ladekabeln sieht das Elektronik-Geschäft genauso aus wie viele andere seiner Art. Der Mitarbeiter hat im Laden angeblich noch nie einen Wolt-Mitarbeiter gesehen. Sein Chef, der bei den Wolt-Ridern nur unter dem Namen „Ali“ bekannt ist, soll aber über hundert Lieferantinnen und Lieferanten beschäftigt und nicht bezahlt haben. Der Mitarbeiter vor Ort erreicht seinen Chef telefonisch. „Mit Wolt arbeiten wir schon lange nicht mehr zusammen“, sagt er erst. Dann korrigiert er sich, er habe „gar nichts“ damit zu tun und weder Daten aufgenommen noch Verträge ausgegeben.

Wolt bestreitet gegenüber Capital, Zahlungen nicht geleistet zu haben und dementiert die Zusammenarbeit mit „Mobile World“. Der Lieferdienst räumt aber ein, „zeitweise“ mit kleineren Personaldienstleistern gearbeitet zu haben. Im Januar sei diese Zusammenarbeit beendet worden, weil man „offensichtliche Unregelmäßigkeiten“ festgestellt habe. Mitte Januar, erzählen Wolt-Mitarbeiter, hätten sie eine Nachricht von „Ali“ bekommen, sie sollen mit der Arbeit aufhören. Wolt habe ihn nicht bezahlt und deshalb könne er wiederum die Rider nicht bezahlen.

Wolt bestätigt offene Lohnforderungen
Dass ein Personaldienstleister Mitarbeitende nicht vollständig ausbezahlt hat, bestätigt Wolt auf Capital-Anfrage. Allerdings seien davon nur 29 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen, nicht 120. „Wir prüfen derzeit, ob und in welcher Form wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Firmen in ihren Forderungen unterstützen können und suchen das Gespräch“, teilt der Lieferdienst dazu mit. Auch sie selbst hätten ausstehende Forderungen, die derzeit juristisch geprüft werden. Genaue Summen nannte das Unternehmen nicht.

„Wenn ich bei einem Subunternehmer arbeite, wer ist dann für mich verantwortlich?“, schallt Muhammads Stimme aus der Box, die vor ihm im Lastenrad steht. „Wir fordern, dass dieses System gestoppt wird.“ Zwar würden alle Angestellten die Wolt-App für ihre Arbeit nutzen und dort Aufträge entgegen nehmen, erklärt Muhammad später. Die Verantwortung liege aber bei den Ridern selbst, weil diese nicht direkt bei Wolt angestellt seien. Der Rest der Protest-Gruppe, die sich inzwischen vor der Wolt-Zentrale versammelt hat, applaudiert Muhammad. Gleich will er in die Zentrale reingehen und einen Stapel Papiere abgeben. Für alle Fahrerinnen und Fahrer sind unter der Überschrift „Zurückbehaltung der Arbeitsleistung“ jeweils die ausstehenden Löhne aufgelistet.

„Wir haben Wolt letzte Woche nochmal aufgefordert, unsere Löhne bis heute zu bezahlen. Das ist nicht passiert“, sagt Muhammad. Dem Unterstützerkreis der Wolt-Rider zufolge kommt so auch die von Wolt angegebene Zahl der 29 betroffenen Mitarbeitenden zusammen. Denn nur diese Gruppe hatte bis Ende vergangener Woche offizielle Mahnungsschreiben formuliert. Ein Arbeitsrechtler und Organisationen der Lieferdienste Gorillas und Lieferando haben die Wolt-Rider beim Aufsetzen der Schreiben und bei der Protestaktion unterstützt. Eine eigene Gewerkschaft haben die Wolt-Rider nicht.

Im Gegensatz zu Konkurrenten wie Lieferando oder Gorillas ist Wolt in Deutschland heute zum ersten Mal von einer Protestaktion betroffen. Wolt wurde 2014 in Finnland als Start-Up gegründet und ist weltweit in über 20 Ländern aktiv. Seit 2020 liefert Wolt auch in Deutschland aus. Gegen eine Liefergebühr von bis zu vier Euro bringen die Rider Speisen, Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs nach Hause – bei jedem Wetter und in jedes Stockwerk.

Proteste auch in Athen und Tiflis
In den vergangenen Tagen hatten in Athen bereits über 2000 Wolt-Fahrerinnen und -Fahrer mehrere Tage lang protestiert. Die App funktionierte deswegen nur eingeschränkt. Die Fahrerinnen und Fahrer dort fordern ebenfalls, dass alle Mitarbeiter unbefristet direkt bei Wolt angestellt und Verträge mit Subunternehmern beendet werden. Außerdem kämpfen sie gegen eine Kürzung ihres Honorars pro Bestellung. Wolt sagte dazu in einem Statement, der Stundenlohn würde prozentual über dem Vorjahresniveau liegen. Auch in der georgischen Hauptstadt Tiflis solidarisierten sich Fahrerinnen und Fahrer von Wolt. Sie protestierten für Krankenversicherungen, die Festlegung von Entfernungen für Bestellungen und dafür, das Gehalt der Inflation entsprechend zu steigern.

Quelle:
capital.de

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