Straße gegen Schiene: Gibt es eine Lösung für den Dauerkonflikt?

In einer klimaneutralen Zukunft sollten Güter und Menschen eigentlich mit der Bahn transportiert werden. Doch Verkehrsminister Wissing will wieder auf die Straße setzen. Wie realistisch ist dieser Plan?


Schnellladestationen stehen alle paar Kilometer auf der Autobahn, Elektro-LKW können mehrere hundert Kilometer weit fahren, und sanierte Autobahnen führen in alle Ecken der Republik: So stellen sich manche Menschen eine klimaneutrale Welt vor. Mit der Energiewende und der Entwicklung von effizienteren Antriebsmöglichkeiten rückt diese (noch) imaginäre Welt immer näher.

Lange Zeit galt die Annahme, dass ein klimaneutraler Verkehr ohne Verlagerung des Güter- und Personenverkehrs auf die Schiene nicht möglich sein wird. Aus gutem Grund. Denn die Rechnung lautet: Ein Güterzug benötigt pro transportiertem Tonnenkilometer nur 20 Prozent so viel Energie wie ein LKW. Dabei wird nur etwa ein Viertel der Emissionen verursacht.

Leitet das Verkehrsministerium ein Umdenken ein?
Doch ein neues Papier des Verkehrsministeriums, das ntv.de vorliegt, scheint hier ein Umdenken einzuleiten. „Klima- und Verlagerungsziele sind zu trennen“, heißt es in einem Bericht des Verkehrsministeriums (BMDV) an den Verkehrsausschuss.

Der Bericht bezieht sich auf eine Prognose des BMDV. Demnach werde sich der Gütertransport in den nächsten 30 Jahren verdoppeln. Der größte Teil davon werde auf der Straße transportiert werden. So erwartet Bundesverkehrsminister Volker Wissing hier in den nächsten 30 Jahren einen Zuwachs von 54 Prozent. Für die Schiene sieht er nur einen Zuwachs von 33 Prozent. Die Bedeutung von LKW auf deutschen Straßen werde daher in Zukunft weiter zunehmen.

Theoretisch ja, realistisch eher nein
Aber ist das mit den Klimazielen vereinbar? Nur theoretisch, sagt Thorsten Koska, Co-Leiter der Abteilung Mobilitätsforschung am Wuppertal Institut. Die Fortschritte bei der Antriebswende in den letzten fünf Jahren seien zwar beeindruckend. Heute gebe es zum Beispiel schon Elektro-LKW mit einer Reichweite von über 500 Kilometern. Das sei nicht mehr weit entfernt von der üblichen Tagesstrecke, die die meisten Fahrer in Europa zurücklegen.

Realistisch sieht es eher anders aus, so Verkehrsexperte Koska. Die große Frage ist nicht die nach den technischen Möglichkeiten der LWK, sondern nach dem Strombedarf für dieses Verkehrskonzept. „Ein System, das mehr Verkehr auf die Straße bringt, statt ihn auf die Schiene zu verlagern, braucht deutlich mehr erneuerbaren Strom“, sagt Koska. An dieser Stelle nochmal der Hinweis auf die Rechnung: Ein Güterzug benötigt pro transportiertem Tonnenkilometer nur 20 Prozent so viel Energie wie ein LKW. Ein klimaneutraler Verkehr, der auf die Straße setzt, würde also die Mammutaufgabe der Verkehrswende auf einen anderen Sektor verlagern: auf den Energiesektor.

Und dann ist da noch die Frage der Zeit. Die Bundesregierung hat sich das rechtlich verbindliche Ziel der Klimaneutralität bis 2045 gesetzt. Die LKW-Flotte so schnell auszutauschen, wäre vielleicht noch möglich. Der Aufbau ausreichender Quellen für klimaneutralen Kraftstoff – entweder in Form von Strom oder Wasserstoff – wird jedoch viel länger dauern. „Wir sind heute weit davon entfernt, genügend Windräder und Solarflächen dafür zu haben“, sagt Koska.

„Sowohl als auch – nicht ein Entweder-oder“
Doch gibt es überhaupt eine realistische Alternative? Derzeit wird etwa zehnmal so viel Fracht mit dem LKW wie mit der Bahn transportiert. Der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter stagniert seit fast einem Jahrzehnt. Wurden 2013 17,5 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert, sind es 2020 mit 18,2 Prozent nur noch geringfügig mehr. Der „Schienenpakt“ aus der Zeit der Großen Koalition sah vor, diesen Anteil bis 2030 auf 25 Prozent zu erhöhen.

Der Bahnsektor ist sich sicher, dass diese Rechnung noch mehr in Richtung Schienenverkehr kippen könnte. So halten die Allianz pro Schiene und der Verband Die Güterbahnen „ein Wachstum auf 35 Prozent bis 2035“ für möglich. „Es braucht keinen Autobahnneubau, um Güterverkehrswachstum zu bewältigen“, betonten sie in einer gemeinsamen Pressemitteilung im Februar. Dafür müsse aber der „Bund seine Hausaufgaben bei Infrastruktur und Rahmenbedingungen macht“.

Die Hausaufgaben wurden gemacht – oder besser gesagt, es wurde zumindest ein Versuch unternommen: Auf der letzten Klausurtagung auf Schloss Meseberg hat die Koalition beschlossen, 45 Mrd. Euro in die Bahn zu investieren. Doch das ist bei weitem nicht genug, um erfolgreich den Gütertransport auf die Schiene zu verlagern. „Die Investitionen für die Schiene reichen gerade aus, um das doch sehr marode Netz wieder funktionsfähig zu machen und die größten Engpässe zu erweitern“, sagt Koska. „Ein Netz, das die für eine Verlagerung nötigen zusätzlichen Verkehrsmengen transportieren könnte, würde viel mehr Investitionen erfordern.“

Und nicht nur das. Es fehlt auch an Personal für den Ausbau des Schienennetzes. Das gleiche Personal, das für den Ausbau der Autobahnen zuständig wäre. „Der Autobahnausbau blockiert finanzielle und personelle Kapazitäten“, sagt Koska. Allein auf die Schiene zu setzen, sei aber auch nicht die Lösung, so der Verkehrsexperte. Nun bleiben 22 Jahre, bis Deutschland klimaneutral sein muss – und bis 2030, in nur 7 Jahren, muss der Verkehrssektor seine Emissionen nahezu halbiert haben. „Es muss ein Sowohl-als-auch geben – nicht ein Entweder-oder.“

Quelle:
Capital

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