Warum der Orderboom der Reedereien zu einer Blase führen könnte

Gestandene Seefrachtexperten haben es in ihren Berufsleben schon einige Male erlebt, dass Reedereien den Markt „überbauen“, die Nachfrage nicht Schritt hält und Raten und Schiffswerte ins Bodenlose stürzen. Den krassesten Einbruch erlebte die Linienschifffahrt 2009 in der Weltfinanzkrise.

Die Branche hatte darauf spekuliert, dass der „China-Boom“ mit zweistelligen Zuwachsraten im globalen Verkehr anhalten würde, und zu diesem Zweck auf Teufel komm raus investiert. Die Folge: Überkapazitäten für rund ein Jahrzehnt, und das, obwohl der Containerverkehr nach 2009 wieder zu wachsen begann, nur eben viel moderater als im Jahrzehnt davor. Eine so gravierende Fehleinschätzung – einige nannten es auch schlichtweg „Gier“ – sollte der Containerschifffahrt nie mehr unterlaufen.

Reeder geben Zurückhaltung auf
Bis Ende vergangenen Jahres hielten die Reedereien auch Disziplin. Was dann passierte, verschlug vielen die Sprache. Im vierten Quartal 2020 und ersten Quartal dieses Jahres legten Carrier – und teils auch Tramp-Reeder – Neubauaufträge für Schiffe von zusammen 2,6 Millionen TEU Kapazität nach. Einen solchen Ansturm auf die Werften hatte die Welt der Containerschifffahrt noch nicht gesehen.

Anders als in früheren Zyklen sind die Investitionen diesmal größtenteils durch die Linien selbst getrieben und nur zu einem geringen Teil durch Tramp-Reeder, die keinen eigenen Zugang zur Ladung haben und ihre Schiffe verchartern müssen. Einige Experten betrachten die Flut an Bestellungen deshalb als rationaler und weniger spekulativ als in früheren Zyklen. Sie unterstellen den Linien ein tieferes Verständnis der Entwicklungen auf der Ladungsseite.

Die Gretchenfrage ist: Rechtfertigt die Transportnachfrage wirklich einen so hohen Kapazitätszubau? Dabei ist die Sicht nach vorne alles andere als klar. Seit Corona wird der Markt hauptsächlich durch Engpässe und Effizienzverluste entlang der Transportkette bestimmt. Die Rundläufe der Schiffe und der einzelnen Container haben sich drastisch verlängert, die Produktivität in den Häfen und im Hinterland ist aufgrund von Sicherheits- und Quarantänemaßnahmen erheblich gesunken. Die effektive Kapazität wird somit begrenzt, auch wenn die Flottenkapazität sogar angewachsen ist.

Was passiert nun, wenn die Pandemie eines Tages überwunden ist und die Produktivität in der Containerschifffahrt wieder anzieht? Die schlummernde Kapazität, die dann freigesetzt wird, könnte das Angebot an Transportleistung Schätzungen zufolge um 3 Prozent oder mehr nach oben treiben. Dabei sind Neubauablieferungen noch gar nicht miteinbezogen. In einem Markt, der auf eine möglichst synchrone Ausweitung von Angebot und Nachfrage angewiesen ist, weil Frachtraten und Assetwerte (Schiffe) sonst empfindlich zur einen oder anderen Seite ausschlagen, können Differenzen von ein paar Prozentpunkten absolut gravierend sein.

Aufgrund der raschen Erholung im Containerverkehr ab dem dritten Quartal 2020 sank das weltweite FCL-Ladungsvolumen im vergangenen Jahr nur leicht um 1,2 Prozent. Für dieses Jahr liegen die Erwartungen verschiedener Marktforschungshäuser wie Clarksons Platou oder Alphaliner bei rund plus 6 Prozent. Allerdings sorgen jüngste Daten des britischen Dienstleisters Container Trades Statistics (CTS), der seine Daten direkt von den Carriern bezieht, jetzt für Unsicherheit in der Branche.

Demnach lagen die weltweiten Verladungen im Mai nahezu unverändert gegenüber Mai 2019 – vor der Pandemie. Ist dies ein erstes Indiz dafür, dass die Erholung im Weltcontainerverkehr an Schwung verliert? Oder liegt es nur daran, dass die Flotte längst zu 100 Prozent ausgelastet ist und gar nicht mehr Ladung gebucht werden kann?

Skeptiker verweisen darauf, dass der Höhepunkt bei der Zunahme der wirtschaftlichen Aktivität laut Einkaufsmanager-Indizes für Nordamerika bereits überschritten scheint. Optimisten führen Berichte aus der Bulkschifffahrt an, wonach erhebliche Ladungsmengen, die bislang containerisiert waren, jetzt wieder „lose“ in Bulk verschifft werden müssen. Die Containerverkehrsdaten werden wohl erst über die kommenden Monate mehr Klarheit bieten.

Doch – Ladungswachstum hin oder her – spätestens 2023, wenn ein Großteil des heutigen Schiffbauauftragsbuchs zur Ablieferung kommt, dürfte der Frachtenmarkt in der Containerschifffahrt ernsthaft auf die Probe gestellt werden. Die Zuwachsrate der Flotte wird laut Clarksons Platou dann auf plus 8 Prozent hochschnellen – von plus 4,5 Prozent in diesem Jahr und plus 2,6 Prozent im Jahr 2022. Dass das Verkehrswachstum wird Schritt halten können, ist unwahrscheinlich. Das letzte Mal, dass die Volumina derart stark zugenommen haben, war direkt nach der Finanzkrise. Zuvor waren sie aber – anders als zu Corona-Zeiten – fast ebenso stark geschrumpft. Um den Markt auszugleichen, werden die Reedereien wohl zu drastischen Maßnahmen greifen müssen, wie in früheren Krisenphasen: für jedes neue Schiff gleichzeitig ein älteres in die Abwrackung geben.

Orders auf dem höchsten Stand seit Jahren
Der Boom an Bestellungen von Containerschiffen ist auf einem historischen Höhepunkt: Laut Marktforscher Vessels Value wurden in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 286 Containerschiffe geordert; das sind neunmal mehr als im Vorjahreshalbjahr. Nach Berechnungen von Alphaliner nähert sich die georderte Stellplatzkapazität allmählich den Dimensionen aus den Jahren vor der Finanzkrise im Jahr 2009. Zu Ende Juni 2021 betrug das weltweite Auftragsbuch für Containerschiffe nach Untersuchung des Analysehauses knapp 5 Millionen TEU. Gegenüber dem Stand von vergangenem Jahr um die gleiche Zeit (2,2 Millionen TEU per 1.7.2020) ist das ein Zuwachs um 127 Prozent.

Die aktuell bestellte Kapazität ist damit die höchste seit 15 Jahren; nur in den Jahren 2007 bis 2009 lag sie noch höher. Relativ betrachtet ist der Orderbestand aber um einiges kleiner. Da sich die operative Flotte in der Containerschifffahrt seit damals auf rund 24,4 Millionen TEU verdoppelt hat, liegt das Verhältnis von bestellter zu bestehender Kapazität (Orderbook-to-Fleet-Ratio) derzeit bei 20,3 Prozent. Das ist ein Plus von 10,5 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Von der Orderbook-to-Fleet-Ratio von 2008 mit knapp 60 Prozent ist die Branche allerdings weit entfernt.

Den Megaschiffen mit einer Kapazität bis zu rund 24.000 TEU mögen die Schlagzeilen gehören, doch Containerschiffe mit 12.500 bis 15.199 TEU machen sowohl nach ihrer bestellten Anzahl (116) als auch ihrer Stellplatzkapazität (1,65 Millionen TEU) den Großteil der Orders aus. Schiffe mit Kapazitäten von 18.000 bis 24.000 TEU kommen auf rund 1,42 Millionen TEU.

Platz eins unter den Bestellern in den Reihen der Linienreedereien ist mit großem Abstand die Mediterranean Shipping Company (MSC). Der Carrier hat Orders in Höhe von mehr als 916.000 TEU getätigt (51 Schiffe; das entspricht einem Anteil von 22,4 Prozent seiner bestehenden Flotte), gefolgt von CMA CGM (Orders in Höhe von 514.000 TEU; 42 Schiffe; Flottenanteil in Höhe von 17,1 Prozent). Auffallend zurückhaltend agiert Maersk: Die nach Kapazität derzeit größte Linienreederei der Welt hat zwar 15 Schiffe geordert, doch diese haben insgesamt gerade mal rund 46.300 TEU (1,1 Prozent der bestehenden Flotte).

Quelle:
DVZ

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