Tagesgeschäft der Reedereien nähert sich der Normalität

Beim ersten Blick auf die Kennzahlen zum Seehandel muss sich wohl jeder verwundert die Augen reiben. Um rund 2 Prozent sind die Ladungsvolumina nach Angaben des Schiffsmaklers Clarksons Platou sowohl in der Container- als auch in der Bulkschifffahrt im vergangenen Jahr geschrumpft. Trotzdem erklommen die Fracht- und Charterraten in der ersten Jahreshälfte ungeahnte Rekorde (Container, Breakbulk/Projekte) oder zumindest Mehrjahreshöchststände. Von Quartal zu Quartal fuhren die Linienreedereien Spitzengewinne ein, von denen selbst Autokonzerne nur träumen konnten. Dabei hatte die Containerschifffahrt über viele Jahre nicht einmal genug verdient, um die Kapitalkosten zu decken, und de facto Geld von Investoren verbrannt.

Rutschpartie der Raten
An den Ladungsmengen kann es nicht gelegen haben. Unter „normalen“ Umständen wäre das Ratengefüge schon vor einem Jahr zusammengebrochen. Doch die Auswirkungen der Pandemie – kurzzeitig noch überlagert durch Effekte des russischen Angriffs auf die Ukraine und einen damit zusammenhängenden Stopp von Containern in Transhipment-Häfen – stellten die Märkte auf den Kopf. Noch größer als der Rückgang an Ladung war der Verlust an Flottenproduktivität. Ergebnis: prall gefüllte Schiffe bei Abfahrten ex Fernost – trotz alledem.

Das ging bis etwa zur Jahresmitte so. Dann lösten sich dank des Abflauens der Pandemie ausgehend von der US-Westküste allmählich die Schiffsstaus vor den Häfen auf, während gleichzeitig die Buchungen aufgrund der Inflation rasant abnahmen. Plötzlich kamen die ersten Schiffe aus Asien heraus Richtung Nordeuropa kaum noch auf 70 bis 80 Prozent Auslastung. Die Frachtraten legten eine Rutschpartie hin, wie sie keiner hatte kommen sehen – zuerst nur die Spot-, dann auch die Kontraktraten, die auf vielen Routen jetzt neu ausgeschrieben werden. Konnten die Carrier Anfang 2022 noch rund 15.000 US-Dollar/FEU für Verladungen von China nach Nordwesteuropa aufrufen, sind es jetzt gerade noch 1.500 bis 1.800 Dollar. Vor allem eins ist im Zuge von Corona, Krieg und Inflation durch die Decke gegangen, wie sich herausstellt: die Volatilität. Selbst nach der großen Finanzmarktkrise von 2008 fielen die Raten nicht auf ein Zehntel, schon gar nicht in so kurzer Zeit – abgesehen von Randerscheinungen wie im Asien-Südamerika-Verkehr vor einigen Jahren.

„Verrückt“, „nie dagewesen“, „Zustände wie zu Zeiten der Hanjin-Insolvenz“ sind Attribute und Vergleiche, die in Branchenkreisen kursieren. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zur letzten richtig schweren Krise in der Linienschifffahrt 2016: Die Reedereien sitzen auf den dicksten Kapitalpolstern aller Zeiten. Quasi im Nu haben sich Unternehmen wie CMA CGM, die 2020 noch als Wackelkandidaten galten, entschuldet. „Alle großen Carrier verfügen über ausreichend Cash, ihre Bilanzen sind voll repariert, so dass jeder von ihnen sogar einen verlängerten Abschwung überleben kann. Ich erwarte keine großen Insolvenzen“, meint der Analyst Tan Hua Joo von der Marktforschungsfirma Linerlytica.

Potenzieller Verdrängungswettbewerb
Kurioserweise scheint es gerade ihre ausgezeichnete Kapitalisierung zu sein, welche die Linienreeder jetzt aufs Neue in einen potenziellen Verdrängungswettbewerb treibt. Man kann es sich leisten, die Grenzen auszuloten: Wer streicht als Erster die Segel und überlässt das Geschäft den Konkurrenten? Bislang haben nur kleine Fische Reißaus genommen – Newcomer wie Allseas, CU Lines oder Ellerman, die nur winzige Marktanteile im Fernost-Geschäft hatten. „Wir lagen falsch damit, dass die Linien nicht mehr die gleichen Fehler begehen würden“, stellt auch die Beratungsfirma Drewry fest und verweist auf die angesichts der Ladungseinbrüche bislang völlig unzureichenden Kapazitätseinschnitte. Mit Ausnahme des Trades von Fernost zur US-Westküste, aus dem inzwischen zahlreiche Schiffssysteme abgezogen und zumeist Richtung US-Ostküste verlagert wurden, beschränkt sich das Kapazitätsmanagement der Carrier im Wesentlichen auf „Blanking“, also die Streichung einzelner Abfahrten.

Die Schere zwischen Angebot und Nachfrage nach Laderaum klafft nun aber bedrohlich auseinander. Ganze Dienste müssten eigentlich aus dem Fahrplan genommen werden, geben auch Manager aus Agenturen und Reedereien hinter vorgehaltener Hand zu. Rund 7 bis 9 Prozent Flottenwachstum steht der Containerschifffahrt allein in diesem Jahr ins Haus, warnen Marktexperten – wie viel genau, hängt davon ab, welche Neubauablieferungen sich noch weiter in die Zukunft verschieben lassen. Noch größer soll der Effekt durch die Wiederherstellung der Produktivität und Fahrplantreue sein: 19 Prozent Kapazitätsplus kalkuliert Drewry dafür ein. Bei den globalen Containerverladungen hingegen, sprich dem Geschäftsvolumen, wird höchstens mit minimalem Wachstum gerechnet, gemessen in Transportleistung (TEU-Meilen) sogar mit einem Minus.

Auch wenn der Höhepunkt der Inflation überschritten ist und die wirtschaftliche Aktivität den Einkaufsmanager-Indizes zufolge nicht mehr so schnell schrumpft wie noch im Herbst: Den Silberstreif am Horizont können die meisten im Überseegeschäft noch nicht erkennen.

Quelle:
DVZ

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