Das bedeutet das Ende der Allianz „2M“ für die Seefahrt

Dank des Oligopols von drei Seefahrt-Allianzen verdienen Reedereien Milliarden. Nun aber droht das System der Absprachen einzustürzen. Was heißt das für die Lieferketten?

Fast lautlos schwebt die Stahlbox der Schweizer Reederei MSC über das Deck der „Mogen Maersk“. Der 399 Meter lange Frachter hat tags zuvor in Malaysias Hafen Tanjung Pelepas festgemacht. Im weltweit größten Port der dänischen Reederei Maersk soll er tiefgefrorenes Schweinefleisch, neuseeländische Äpfel, T-Shirts für die Modekette Zara und anderes an Bord nehmen.

Mit einem dumpfen Scheppern bugsiert ein 80-Tonnen-Kran die mattgelbe Box auf einen der 17 nebeneinandergereihten Containerstapel im Schiff, bevor sich die vier Greifzangen der Hebevorrichtung von ihr lösen. Einträchtig ruht die Schweizer Stahlbox Minuten später zwischen gleichgroßen Containern der dänischen Seefahrtslinie Maersk und ihrer Deutschlandtochter Hamburg Süd – ein Bild, das es schon in zwei Jahren nicht mehr geben dürfte.

Denn die beiden weltweit größten Reedereien, die beim Seetransport seit Jahren das Bündnis „2M“ bilden, haben vor wenigen Tagen fristgerecht ihre Scheidung zum 2. Januar 2025 eingereicht. Das angekündigte Ende dieses Kartells, das aktuell weltweit jeden dritten Container auf See befördert, wirft seither Schockwellen durch die internationale Container-Seefahrt.

Maersk, MSC und Hapag-Lloyd: Mit drei Allianzen beherrschen die Reedereien den Weltmarkt
Denn es dürfte das Aus für ein Konstrukt in der Seefahrt einleiten, das mit freiem Wettbewerb und vielen Gesetzen der Marktwirtschaft recht wenig zu tun hatte, dafür aber für seine unmittelbar teilnehmenden Reedereien recht lukrativ war: das System der Container-Reederei-Allianzen.

Vielen galten die drei Container-Allianzen „2M“, „THE Alliance“ und „Ocean Alliance“, mit denen die neun größten Reedereien 82,1 Prozent des Weltmarkts beherrschen, in den vergangenen Jahren als Gelddruckmaschinen – und mitunter als Horror für die Kundschaft.

Allein Maersk fuhr mit einem Gewinn vor Steuern und Zinsen (Ebit) von 30,9 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr sämtlichen Konzernen Europas weit davon. Selbst der nur halb so große Wettbewerber Hapag-Lloyd aus Hamburg, Mitglied der konkurrierenden „THE Alliance“, schaffte es mit einem Ebit von 18,5 Milliarden Dollar auf Augenhöhe mit Dax-Schwergewichten wie VW, BMW oder Mercedes. Und so ein Konstrukt geben die Konzerne nun auf?

Kaum eine Autostunde von der „Mogen Maersk“ entfernt schippert Christian Kjaergaard-Winter auf einem Ausflugsboot durch den Hafen von Singapur, an dessen Terminalgeschäft der bisherige Allianzpartner MSC finanziell beteiligt ist. Der aus Kopenhagen angereiste Sprecher des dänischen Reederei-Giganten sagt offen, weshalb es mit dem langjährigen Partner aus der Schweiz nicht mehr klappt.

MSC, sagt er, sei mit seiner zuletzt massiv ausgebauten Flotte allein auf den Kostenvorteil aus. Die Jagd nach dem möglichst günstigsten Transportpreis bedeute aber, dass die Allianzmitglieder streng an den gemeinsamen Linienfahrplan gebunden seien.

„Bei Schiffsverspätungen nimmt uns das die Möglichkeit, eilige Sendungen etwa über andere Häfen, den Lkw oder sogar auf den Frachtflieger umzulenken“, sagt Kjaergaard-Winter. Für Transportkunden schwinde somit die Hoffnung, jemals wieder auf pünktliche Lieferketten vertrauen zu können.

Der Vortrag gleicht einem Schuldeingeständnis. Denn tatsächlich haben die Reedereien den Wind selbst entfacht, der die gepflegte Architektur der weltweiten Containerseefahrt nun zusammenbrechen lässt.

Unzuverlässige Lieferzeiten: Kunden kontern mit Nearshoring
Gleich nach dem Ausbruch der Coronapandemie ließen sie ihre Frachter vor Anker und ihre Lieferketten reißen. Container blieben wochenlang an der Kaikante stehen, Schiffe verspäteten sich um Tage, Supermarktregale standen leer. Den Zorn der Frachtkunden minderte eher nicht, dass die Transportpreise parallel zeitweise um das Fünffache stiegen.

Die Quittung bekommen die Seereedereien längst zu spüren. Statt Ware zu hohen Frachtraten und unzuverlässigen Lieferzeiten in Fernost zu ordern, setzen Europas Unternehmen zunehmend auf Nearshoring, den Einkauf möglichst in den Nachbarländern.

Nicht nur die Automobilindustrie müht sich nach Beobachtungen der Beratung Roland Berger um kürzere Lieferwege, wovon Länder wie Rumänien, Polen und der Westbalkan profitieren. Auch der Strickmaschinenhersteller Dürkopp Adler berichtete vor wenigen Wochen davon, dass europäische Modefirmen verstärkt Fabriken in Europa, Nordafrika und im Nahen Osten aufbauen.

Menge der benötigten Container sinkt
Für die Firmen heißt das: Sie versuchen Transportrisiken aus Fernost zu umgehen. Für Reedereien wie MSC oder Maersk bedeutet das: Die Transportwege werden kürzer, damit sinkt auch die Menge der benötigten Container.

Tatsächlich ging im Jahr 2022 das weltweite Frachtvolumen auf See, so die vorläufigen Schätzungen, um vier Prozent zurück. Gleichzeitig stürzten mit der geringeren Nachfrage die Frachtraten ab. Kostete die Reise eines 40-Fuß-Doppelcontainers Anfang 2022 im Schnitt noch 5000 Dollar, ist sie heute für 1000 Dollar auf dem Spotmarkt zu haben.

Sechs Prozent der Weltflotte, errechnete die Pariser Marktbeobachtungsfirma Alphaliner, sind aktuell beschäftigungslos. Nicht mehr in allen Fahrgebieten seien die Frachtraten kostendeckend, erzählte neulich Hapag-Lloyd-Chef Rolf Habben Jansen vor Journalisten in Hamburg.

Dass sich die Reedereien eines Tages mit ihren mächtigen Allianzen in eine Sackgasse manövrieren würden, hatten in der Vergangenheit nur wenige geahnt. Von der EU-Kommission erhielten sie sogar politischen Rückenwind. Denn Brüssel erteilte den Zusammenschlüssen per Gruppenfreistellung eine Ausnahmegenehmigung vom Kartellverbot.
In der Folge schloss sich damals Weltmarktführer Maersk mit dem Wettbewerber MSC, der einstigen Nummer zwei, zur Allianz „2M“ zusammen. Seefahrtslinien etwa über den Atlantik, den Pazifik oder von China nach Europa bedienen sie seitdem gemeinsam, schränken jedoch mit ihrem abgestimmten Verhalten die Wahlmöglichkeiten für Transportkunden ein.

Maersk, MSC und Hapag-Lloyd: „Im Verbund gegen die Wand gedrückt“
Hinzu kommt, dass den Häfen bis heute bei jeder Gebührenverhandlung ein Klumpenrisiko droht. Denn faktisch verhandeln sie weltweit mit nur drei Großkunden. Noch vergangenen Oktober klagte der damalige Vorstandschef des Bremer Hafenbetreibers BLG, Frank Dreeke: „Die Reedereien haben die Terminals im Verbund gegen die Wand gedrückt.“ Belgiens Häfen Zeebrügge und Antwerpen sahen sich sogar zu einer Fusion genötigt, um sich der geballten Einkaufsmacht auf See zu erwehren.

Nun aber stellt die Kursänderung der Reedereien Seehäfen weltweit vor ganz andere Herausforderungen. Marco Neelsen steht auf dem Balkon des mit einem gewellten Dach futuristisch anmutenden Zentralgebäudes, von wo aus sich der Blick auf fast sämtliche 57 Containerbrücken des Ports Tanjung Pelepas (PTP) öffnet.

Vor sieben Jahren ist der knapp zwei Meter große Seemann von Hamburg nach Malaysia gewechselt, um dort als CEO der von Maersk mitregierten Hafengesellschaft für Neugeschäft zu sorgen. „Weil wir es immer wieder schaffen, Verspätungen aufzuholen“, erzählt Neelsen stolz, „haben sich auf dem Hafengelände inzwischen Firmen wie VW, Flextronics oder Decathlon angesiedelt.“

Doch nun muss er um reichlich Frachtvolumen bangen. Denn von den elf Millionen Standardcontainern (TEU), die Tanjung Pelepas im vergangenen Jahr umschlug, stammten zwei Millionen von dem bisherigen Maersk-Allianz-Partner MSC. Der aber wird nach der Kündigung von „2M“ seine Frachter an Malaysia vorbeileiten, um sie in Singapur zu entladen. Der zweitgrößte Hafen der Welt liegt nicht nur in Sichtweite von Tanjung Pelepas. An einem der Terminals ist die Schweizer Reederei MSC auch beteiligt.

Für Maersk hat das Konsequenzen. Die Flotte von 730 Schiffen wollen die Dänen nicht weiter ausbauen, künftig sogar wieder auf kleinere Schiffe setzen. Die Zukunft der Containerbranche, glauben sie, sieht stattdessen ganz anders aus. Vielleicht nicht mehr ganz so lukrativ, dafür aber sehr futuristisch – etwa so wie in dem 40 Fußballfelder großen Gebäude nördlich des Hafens von Singapur.

Scheinbar per Geisterhand gleiten in einer neun Stockwerke hohen Halle Transportschlitten durch Hunderte Meter lange Regalreihen, die der Spirituosenhersteller Diageo mit Whiskey-Importen bestückt hat. Immer wieder greift die automatische Förderanlage einzelne, mit Spirituosen gefüllte Kartons aus den Fächern und vereint sie zu Kommissionen. Die Sendungen werden später ins Ausland verschickt, etwa nach China, Vietnam oder auf die Philippinen.

Gleich nebenan verpacken Reederei-Angestellte Schuhe des Sportartikelherstellers Nike, die Singapur vor Kurzem erst per Container erreicht haben. Versehen mit der jeweils speziellen Landesbeschriftung gehen sie danach weiter nach Indien, Indonesien, Malaysia, Taiwan und Australien, wie einer Leuchttafel mit dem jeweiligen Produktionsstand am Ende der Halle zu entnehmen ist.

40 Prozent davon gelangen per E-Commerce direkt zu den Endkunden – für eine Reederei wie Maersk, die bisher vom Geschäft mit Unternehmen lebte, eine Kulturrevolution.

Maersk will komplette Lieferkette unter Kontrolle bringen
Ditlev Blicher sitzt in einem heruntergekühlten Konferenzraum, der die tropischen Temperaturen des quirligen Stadtstaates um ihn herum vergessen lässt. Die Fenster hat Maersks Asien- und Pazifikchef für seinen Vortrag gegen die Sonneneinstrahlung abgedunkelt. Doch die Umbaupläne, von denen er berichtet, sind durchaus heiß.

Statt allein Stahlboxen über die Weltmeere zu befördern, arbeite man fieberhaft an einer Lieferkette von der Fabrik bis zum Endkunden. Schon in den vergangenen zwölf Monaten steckte die Reederei Milliarden in entsprechende Zukäufe. Zu ihnen zählt die Hamburger See- und Luftfrachtspedition Senator, aber auch die in Hongkong beheimatete LF Logistic, zu der auch die Warendrehscheibe in Singapur gehört.

„Wir haben erst 40 Prozent der Wegstrecke geschafft“, sagt Blicher. Weitere Zukäufe plane man in der Luftfracht, und auch in manchen Weltregionen gebe es noch „weiße Flecken“. Wichtig sei in jedem Fall, dass man sämtliche Glieder der Lieferkette unter eigener Kontrolle habe. „Wenn ein Schneesturm für Verzögerungen sorgt, müssen wir sofort die Möglichkeit haben, eine andere Strecke oder ein anderes Verkehrsmittel zu wählen“, sagt er.

Mit dem Pünktlichkeitsversprechen wollen die Dänen vor allem den Preiskampf beenden. „Früher wechselten unsere Reedereikunden schon zur Konkurrenz, wenn diese einen 25 Euro günstigeren Containerpreis bot“, erinnert sich der Asienchef. Nun setze man auf langfristige Kontrakte, und das am liebsten mit den weltweit 200 größten Unternehmen. „Über den Spotmarkt werden wir höchstens noch 20 Prozent unserer Kapazitäten vertreiben“, kündigt er an. Konkurrenten wie Hapag-Lloyd liegen dagegen bei rund 50 Prozent.

Tut die Reederei CMA CGM es Maersk und MSC gleich?
Mit dieser Strategie sind die Dänen längst nicht mehr allein. Auch der Reederei-Riese CMA CGM aus dem französischen Marseille, mithin die Nummer drei auf den Weltmeeren, legte sich in den vergangenen Jahren ein umfangreiches Imperium an Flugzeugen, Lkw-Netzen und Lagerhallen zu.

Schon 2019 übernahm sie den Kontraktlogistiker Ceva, der die Reederei seither mit Lagereidienstleistungen, Retourenlogistik und Speditionsdiensten ergänzt. Anfang vergangenen Jahres kam der französische Paketdienst Colis Privé hinzu. Mit rund einer halben Milliarde Euro kaufte die Reederei zudem im April 2022 den Autotransporteur Gefco, Mitte Mai 2022 stieg sie als Ankeraktionär bei der Fluggesellschaft Air France-KLM ein.

Dass es CMA CGM dem dänischen Rivalen Maersk gleichtut und ebenfalls sein Kartell verlässt – in diesem Fall die „Ocean Alliance“ – ist für Seefahrtsexperten nur noch eine Frage der Zeit. „Die Franzosen werden dem Beispiel spätestens in einem Jahr folgen“, sagt einer von ihnen, der nicht namentlich genannt werden möchte.

CMA CGM sei der nächste Kandidat, der einen Austritt aus seinem Kartell prüfen wird, urteilt ebenso Drewry-Analyst Simon Heaney. „Bisher glaubten alle, dass die Allianzen die zukünftige Seefahrt dominieren würden“, sagt er. „Dieser Glaube ist nun radikal erschüttert.“ Auch bei den Container-Riesen ist offenbar die Erkenntnis gewachsen: Größe zählt, aber eben nicht nur.

Quelle:
Handelsblatt

Schreibe einen Kommentar