So will der Handel seine Lieferketten krisenfest machen

Nach drei Jahren ist klar: Corona war nur ein Weckruf. Die Krise der Lieferketten ist noch nicht vorbei. Nötig sind massive Investitionen, in die Digitalisierung von Abläufen ebenso wie in die Verbesserung der Beziehungen zu Lieferanten.

Die Pandemiemaßnahmen sind rund um die Welt weitgehend aufgehoben worden, Container und Schiffe wieder verfügbar – und dennoch hat sich die Lage in der Logistik bis heute nicht vollkommen entspannt. Denn während die Branche viele frühere Belastungen verarbeitet hat, drohen nun neue Nöte an anderer Stelle: Krieg, handelspolitische Unsicherheiten, Cyberkriminalität, gestiegene Energiekosten und schärfere gesetzliche Anforderungen.

Selbst die durch Covid-19 bedingten Probleme haben sich nicht gänzlich in Luft aufgelöst. „Es herrscht weiter Unberechenbarkeit bei vielen Nonfood-Artikeln aus Südostasien“, beobachtet Handelsexperte Prof. Dr. Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.

Neue Prioritäten
Mehr als zwei Drittel der Händler, die der Shopsoftware-Anbieter Shopify für seine Commerce-Trends 2023 befragt hat, geben an, dass Unterbrechungen der Lieferkette sich weiter negativ auf die Ausführung von Kundenbestellungen auswirken.

„Die anhaltenden Lieferkettenprobleme sind auch angesichts der Tatsache, dass viele Verbraucher sich derzeit beim Konsum zurückhalten, bemerkenswert“, sagt Stephan Sieber, CEO der Transportmanagement-Plattform Transporeon, auf der sich viele Verlader, Frachtführer, Spediteure und Handelsunternehmen vernetzen, „denn die nachlassende Nachfrage hat bereits Druck aus den Lieferketten genommen.“


Erhöhung von Warenbeständen und Preisen hilft nur kurzfristig
Neben den weiter steigenden Transportkosten bereitet Logistikern auch der Fahrermangel Kopfzerbrechen, der inzwischen auch in der Handelslogistik deutlich spürbar ist. Eine unter Mitwirkung des Handelsverbands Deutschland (HDE) veröffentlichte Studie zeigt für Deutschland einen Mangel von 70.000 Berufskraftfahrern auf.

Was können Händler tun, um anhaltenden Lieferproblemen zu begegnen und das eigene Geschäft zu sichern? Zunächst das Offensichtliche: Warenbestände erhöhen und gestiegene Transportkosten an die Kunden weitergeben. Beides ist allerdings mit Blick auf die derzeitige Konsumzurückhaltung risikobehaftet – und ohnehin nur kurzfristige Symptombekämpfung. Mittel- und langfristig muss der Handel seine Lieferketten widerstandsfähiger machen, oder neudeutsch „resilient“.


Verlässlichkeit als neue Priorität
„Resilientere Lieferketten erfordern in vielen Prozessen radikales Umdenken“, sagt Professor Thomas Wimmer, Vorsitzender des Vorstands bei der Bundesvereinigung Logistik, „nicht zuletzt von der bisherigen Priorität Kosten hin zu den neuen Prioritäten Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit.“

Dabei ist die Nutzung digitaler Technologien dringlicher als je zuvor. „Händler sollten spätestens jetzt beginnen, an ihrer Bedarfsoptimierung zu arbeiten und die Geschäftsprozesse weitestgehend zu digitalisieren, um Engpässe ausgleichen zu können“, sagt Frank Noß von Roqqio.

„Digitalisierung funktioniert nur so weit, wie die physische Infrastruktur funktioniert.“

Prof. Dr. Gerrit Heinemann, Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach

Warenknappheit schneller erkennen
Digitale Prozesse ersetzen zwar keine Produkte. Aber Einkäufer können, wenn sie Bestellungen, Lagerbestände und Lieferantenangebote in Echtzeit abrufen, eine aufkommende Warenknappheit schneller erkennen. KI-basierte Simulationen von Liefersituationen können anhand veränderter Parameter die Entscheidungsfindung in der Warenlogistik unterstützen.

Um ihre Lieferketten zu stabilisieren, investieren Handelsunternehmen derzeit aber nicht nur in Technologie, sondern auch in die Beziehungen zu ihren Lieferanten. Fast ein Drittel der von Shopify befragten Händler bauen Puffer in ihre Lieferketten ein, indem sie die Produktbeschaffung diversifizieren: 30% haben neue Lieferanten gefunden, 29% beziehen ihre Produkte jetzt von mehreren Produzenten oder aus verschiedenen Ländern.

Auch der „Logistics Trend Radar“ von DHL kommt zu diesem Ergebnis: 76% der befragten Unternehmen wollen ihre Lieferantenbasis in den nächsten zwei Jahren verbreitern.

Räumliche Nähe wird bei der Beschaffung wichtiger
Einen weiteren Weg, Lieferketten widerstandsfähiger zu machen, sehen viele im „Nearshoring“. In einer Befragung von Coupa, Anbieter einer Cloud-Plattform für Business-Spend-Management, unter deutschen Supply-Chain-Managern gaben 29% an, die Abhängigkeit von Lieferanten aus bestimmten Regionen zu reduzieren, 26% wollen auf Lieferanten zurückgreifen, die näher an den eigenen Produktions- oder Vertriebsstandorten liegen.

Besonders in der Textilbranche haben zahlreiche Anbieter schon in der ersten Corona-Phase 2021 Teile der Fertigung in schneller erreichbare Regionen verlagert, vor allem in die Türkei, nach Portugal und Nordafrika.


„Langfristige Bedrohung für unseren Wohlstand“
Digitalisierung, Diversifikation und Deglobalisierung also als Schlüssel zur Überwindung der Logistikkrise? Handelsexperte Heinemann ist nicht so optimistisch. Er glaubt: „Lieferkettenprobleme sind kein vorübergehendes Phänomen, sondern eine langfristige Bedrohung für unseren Wohlstand.“

Dies gelte wegen der Infrastrukturprobleme besonders für Deutschland. „Wir haben ein gigantisch wachsendes Frachtvolumen auf der Straße, weil die Bahn den Netzausbau nicht umgesetzt kriegt, und gleichzeitig eine jahrzehntelang vernachlässigtre Straßeninfrastruktur“, sagt er. „Digitalisierung funktioniert aber nur so weit, wie die physische Infrastruktur funktioniert.“

Effizientere Prozesse durch Datenaustausch und -abgleich
Auch Transporeon-Chef Sieber sieht die Infrastruktur als Problem: „Letzten Endes muss die Ware von A nach B.“ Aber: „Gerade weil die physische Infrastruktur an ihre Grenzen stößt, ist es umso wichtiger, innerhalb dieser Grenzen das beste Ergebnis zu erzielen.“

Die Zusammenarbeit auf digitalen Plattformen kann helfen, eine höhere Resilienz in den Lieferketten zu erreichen. Durch Austausch und Abgleich von Lieferkettendaten werden effizientere Prozesse ermöglicht, um im Fall von unvorhergesehehnen Ereignissen schnell reagieren zu können.

Zwar werde die Digitalisierung allein die Lieferkettenprobleme nicht lösen, sagt auch Sieber. Aber: „Mangelnder Datenaustausch und schlecht ausgelastete Kapazitäten sorgen für eine Ineffizienzquote von geschätzt 30% in der Logistik. Digitalisierung kann diesen Wert halbieren – und verglichen mit neuen Schienen, Brücken oder E-Infrastruktur schneller und kostengünstiger umgesetzt werden.“

„Mangelnder Datenaustausch und schlecht ausgelastete Kapazitäten sorgen für eine Ineffizienzquote von 30% in der Logistik.“

Stephan Sieber, CEO Transporeon


18 Minuten lösen das Fahrerproblem
Digitale Werkzeuge, die in Echtzeit abbilden, welche Lkw-Typen mit welchen Warensicherungsmöglichkeiten gerade wo unterwegs sind, können zum Beispiel helfen, die hohen Leerfahrtquoten von 25 bis 30% zu verringern.

Eine KI-gestützte Routenplanung, die auch den Fahrzeugradius berücksichtigt, trägt dazu bei, dass Fahrer weniger Umwege nehmen. „Wenn wir mit smarten digitalen Karten nur zwei falsche Abzweigungen pro Tag vermeiden können, kommen wir schon sehr nah an die 50%-Lösung dieses Problems heran, sagt Stephan Sieber.

Er zitiert noch eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology: Sie hat ergeben, dass Kraftfahrer bis zu 40% ihrer Arbeitszeit mit Warten am Lade- oder Lieferort verbringen. „Wenn jeder Fahrer täglich nur 18 Minuten länger auf der Straße wäre, könnten die durch den Fahrermangel bedingten Lieferprobleme weltweit gelöst werden.“

Quelle:
Etailment

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