Zehn Jahre Belt and Road Initiative: Chinas Neue Seidenstraße – Bilanz eines gigantischen Projekts

Eine Billion Dollar hat China bislang in die Neue Seidenstraße investiert. Das Infrastrukturprojekt hat das globale Machtgefüge verschoben, sagt die Geoökonomin Katrin Kamin, die Europäer hätten das fast völlig verschlafen. Eine Bilanz mit den wichtigsten Projekten.

Mit einem Gipfel feiert die chinesische Regierung den zehnten Jahrestag ihres gigantischen Infrastrukturprojekts Neue Seidenstraße. Erwartet werden hochrangige Vertreter aus 130 Ländern, darunter auch Russlands Präsident Wladimir Putin (71). Chinas Präsident Xi Jingping (70) kündigte eine Grundsatzrede an.

Vor zehn Jahren hatte Xi sein „Jahrhundertprojekt“ vorgestellt: eine Neue Seidenstraße, die anknüpft an den Mythos der antiken Handelsroute; ein in diesem Jahrtausend gebautes, globales Infrastrukturprojekt unter chinesischer Führung. Der „Belt and Road Initiative“ (BRI), wie sie in Peking genannt wird, haben sich bis heute rund 150 Länder angeschlossen. Die chinesische Regierung flutet insbesondere Schwellenländer mit Milliarden von US-Dollar, um in den jeweiligen Staaten Infrastrukturprojekte zu finanzieren. China baut auf der ganzen Welt: Häfen, Staudämme, Pipelines, Autobahnen und Schienenverbindungen. Die Liste ist lang, Details bleiben in vielen Fällen im Dunkeln.

Was hat China in zehn Jahren damit wirklich erreicht? Die Geoökonomin Katrin Kamin (39) erklärt im Interview, wie Chinas Projekt das globale Machtgefüge verschoben hat und was die Neue Seidenstraße besonders die Europäer lehrt.

manager magazin: In diesem Jahr haben die Investitionen in die Neue Seidenstraße die Marke von einer Billion Dollar geknackt. Die chinesische Regierung spricht in diesen Tagen sogar von Bauverträgen im Umfang von insgesamt zwei Billionen Dollar. Aktuell allerdings fährt China angesichts von Konjunkturdelle und Krise auf dem heimischen Immobilienmarkt die Investitionen etwas zurück. Ist das Projekt am Ende?

Katrin Kamin: Keineswegs. Es geht nicht nur um Investitionen. In der außenpolitischen Strategie Chinas, die wie alle Strategien immer sehr langfristig angelegt ist, steht schwarz auf weiß, dass das Ziel ist, den Einfluss der USA einzudämmen. Von daher denke ich nicht, dass die Initiative gescheitert ist. Im Gegenteil. China versucht ganz gezielt, Staaten an sich zu binden, die nicht im Orbit der USA sind. Mikronesien zum Beispiel, aber auch die Philippinen und Sri Lanka, Länder in Afrika und Lateinamerika.

China baut Straßen, Eisenbahnlinien, Häfen. Von Jakarta bis Duisburg, von Colombo über Athen bis Chancay in Peru. Was zeichnet diese Projekte aus?

Ein gutes Beispiel ist die Maputo-Katembe-Hängebrücke in Mosambik. Für China sind solche Projekte auf mehreren Ebenen interessant: Es werden international neue Partnerschaften geknüpft und Handelswege besser erschlossen. China exportiert Dienstleistungen und schickt Bauunternehmen. Chinesische Banken stellen dafür das Kapital zur Verfügung. Zu einem Win-win wird dies, wenn ein Nutzen für die Menschen vor Ort entsteht. Das ist hier der Fall, weil dringend benötigte Verkehrswege verbessert und verkürzt werden. Im besten Fall können solche Projekte zur wirtschaftlichen Transformation beitragen.

Geht es auch um Rohstoffe?

Ja, im Fokus des chinesischen Engagements in Afrika und Lateinamerika steht die Sicherung der Rohstoffversorgung. Zum Beispiel Kobalt aus Afrika und Lithium aus Lateinamerika. Im Bereich Minerals & Mining hat China sein Engagement deutlich verstärkt, im ersten Halbjahr 2023 um 131 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Ein gutes Beispiel ist die Maputo-Katembe-Hängebrücke in Mosambik. Für China sind solche Projekte auf mehreren Ebenen interessant: Es werden international neue Partnerschaften geknüpft und Handelswege besser erschlossen. China exportiert Dienstleistungen und schickt Bauunternehmen. Chinesische Banken stellen dafür das Kapital zur Verfügung. Zu einem Win-win wird dies, wenn ein Nutzen für die Menschen vor Ort entsteht. Das ist hier der Fall, weil dringend benötigte Verkehrswege verbessert und verkürzt werden. Im besten Fall können solche Projekte zur wirtschaftlichen Transformation beitragen.

Es gibt aber auch viel Kritik an überdimensionierten und defizitären Projekten, mit denen ärmere Länder in eine chinesische Abhängigkeit geraten. Die Neue Seidenstraße schafft Milliardengräber.

Es gibt unbestritten Schwierigkeiten in vielen Ländern. Bauvorhaben, die gestoppt werden müssen, weil die Kredite nicht bedient werden. Ein Beispiel ist Sri Lanka. Dort ist das Tiefseehafenprojekt von Hambantota an der Schuldenproblematik gescheitert. China hat den Hafen dann für 99 Jahre gepachtet. Mit Sri Lanka hat China auf ein Partnerland gesetzt, das aufgrund seines hohen Handels- und Leistungsbilanzdefizits bereits am Rande der Zahlungsunfähigkeit stand und seine Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte. Beim Scheitern des Megahafens hat vermutlich auch Korruption eine Rolle gespielt. Wenn Staaten wie Sri Lanka, in die China investiert, bereits in einer schwierigen Lage sind, ist es nicht verwunderlich, dass solche Großprojekte scheitern.

Häufig – wie im Fall Sri Lanka – scheinen sie aber auch völlig überdimensioniert schon in der Planung und von daher zum Scheitern verurteilt.

Das stimmt. Ich möchte aber dazusagen, dass es auch schon Projekte vom Internationalen Währungsfonds oder von der Weltbank gab, die an den Realitäten vorbeigeplant wurden und deshalb ihr Ziel verfehlten. Das ist keine chinesische Spezialität. Gerade große Infrastrukturprojekte sind in der Umsetzung häufig schwierig – egal, wer sich daran macht.

Kürzlich hat eine Studie eines Ihrer Kollegen am IfW gezeigt, dass 60 Prozent aller chinesischen Auslandskredite von einem Zahlungsausfall bedroht sind. 2010 lag dieser Anteil noch bei lediglich 5 Prozent. Seit Langem kursiert der Vorwurf der „Schuldenfalle“ – China treibe ärmere Länder über die hohe Verschuldung in eine Abhängigkeit. Und bereichere sich dann auch noch an vergleichsweise teuren Rettungskrediten. Hat das Methode?

Das ist ein zweischneidiges Schwert – aber ein Schuldenkalkül ist nicht unbedingt anzunehmen, denn China profitiert nicht von gescheiterten Projekten.

Wie hat sich das Großvorhaben Neue Seidenstraße seit 2013, seit Xis Ankündigung, verändert?

Es gibt einen deutlichen Shift Richtung Nachhaltigkeit, hin zu grüner Energie. Ein Beispiel dafür sind drei geplante Kohlekraftwerke in Bangladesch. Die werden jetzt nicht gebaut, das Geld soll stattdessen in Solarenergieprojekte fließen.

Wenn Sie einmal Bilanz ziehen nach zehn Jahren Neue Seidenstraße …

… dann muss man sagen, dass der Plan der Chinesen aufgeht. Die geopolitische Reichweite der BRI ist gigantisch. China hat sich einen Vorsprung erarbeitet. Auch wenn einzelne Projekte scheitern, so hat China seine Beziehungen zu Afrika oder zu Lateinamerika wesentlich konstanter aufgebaut als die EU oder auch die USA.

Wie konnten sich die Europäer aber auch die USA innerhalb eines Jahrzehnts so abhängen lassen?

Insbesondere die Europäer haben die Neue Seidenstraße lange nicht als das verstanden, was sie ist: ein geoökonomisches Machtinstrument. Erst jetzt definiert die EU ihre Rolle langsam neu.

Wie kam das?

Die Ankündigung Xis weckte keinen Argwohn. Ein Infrastrukturprojekt, Handelswege – das klang verbindend und nicht konfrontativ.

Im Ernst, der Westen hat ihn missverstanden?

Ich würde es eher als Unverständnis bezeichnen. Chinas Wirtschaft war auf Wachstumskurs – allein in diesem Kontext wurde die Neue Seidenstraße gesehen. In Deutschland wurde 2013 noch dogmatisch an Wandel durch Handel geglaubt. Zwar war mit der Finanz- und Eurozonenkrise die Phase der Hyperglobalisierung vorbei, aber die nächste Zäsur, der Handelskrieg zwischen den USA und China, war noch nicht abzusehen.

Was hat zu einem Umdenken geführt?

In den vergangenen Jahren haben sich beinahe alle Politikbereiche geopolitisiert. Und diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Ich denke, wir erleben das Jahrhundert der Geopolitisierung, geprägt durch zunehmende Interdependenzen, globale Wertschöpfungsketten und Liefernetzwerke. Und durch Staaten, die Verflechtungen als geoökonomisches Machtinstrument benutzen. Die USA sind schon länger ein geoökonomischer Player. Aber die EU entwickelt sich da gerade erst hin.

Warum tun sich die Europäer so schwer?

Für die EU ist das ein Riesenschritt. Lange Zeit war die Handelsstrategie der EU eine „trade for all“-Strategie: Wir wollen mit allen handeln, es geht um „development“, also Entwicklungshilfe. Geopolitische Außenwirtschaftspolitik zu betreiben war in der EU nicht vorgesehen; man hatte sich das lange verboten.

Beim G-20-Gipfel in Neu-Delhi im September haben die EU, die USA und weitere Länder eine gemeinsame Initiative angekündigt, ein gigantisches Zug- und Schiffsprojekt. US-Präsident Joe Biden spricht von einem historischen Bündnis. Hat er recht?

Historisch ist das Projekt, wenn man sich anschaut, welche Ländern da zusammenarbeiten. Israel und Saudi-Arabien an einem Tisch, Indien, USA, Europa. Das hat es so noch nicht gegeben. Indien ist auch selbst BRI-Land.

Einige Beobachter sprechen von einer Art Anti-Seidenstraße?

Infrastrukturausbau bedeutet, den geopolitischen Outreach zu steigern. Wir erleben einen Wettlauf darum, den Handel und Investitionen zu vertiefen.

Also einen Kampf der Infrastrukturvorhaben?

Ein ernst zu nehmendes Gegengewicht zur Neuen Seidenstraße zu schaffen dürfte für den Westen schwer werden und Zeit brauchen angesichts des Vorsprungs, den China hat. Zudem gibt es noch viele Fragezeichen, darunter die Finanzierung.

Die Neue Seidenstraße erstreckt sich bis nach Deutschland, so ist Duisburg zum Beispiel Endpunkt der Eisernen Seidenstraße , der mehr als 10.000 Kilometer langen Schienenverbindung aus China. Ist das in ihren Augen problematisch?

Aus meiner Sicht kein Grund zur Besorgnis: Wir hatten vorher schon chinesische Investitionen, und das wird auch in Zukunft so sein. Wir müssen nur darauf achten, uns im Bereich der kritischen Infrastruktur nicht abhängig zu machen. Aber das sehe ich nicht in Duisburg und auch nicht in Hamburg, wo es chinesische Beteiligungen im Hafen gibt.

China konnte Staaten häufig sehr schnell für sich gewinnen – die EU hat sich dagegen als viel umständlicher erwiesen.

Wenn die Priorität in der Außenwirtschaftspolitik nicht Menschenrechte sind, ist es natürlich viel einfacher, mit China zusammenzuarbeiten als mit der EU. So ist China für viele Länder der unkompliziertere Partner, weil auf Menschenrechte aber auch auf Umweltauflagen nicht so sehr geachtet wird. Und andersherum fokussiert China sich gezielt auf die Staaten, die nicht eng mit den USA kooperieren. Da bleiben einige übrig, die sehr autokratisch regiert sind. Das ist zwangsläufig die Logik der Blockbildung. Manchmal ist es aber auch so, dass die Europäer einfach nicht von der Stelle kommen und China dann sozusagen einspringt.

Haben Sie ein Beispiel?

Den Handelspakt mit Mercosur (Anm. der Redaktion: Zur Mercosur-Wirtschaftsgemeinschaft zählen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) bringt die EU seit Jahren nicht über die Ziellinie. Wenn sie das nicht hinbekommt, dann machen die Chinesen das Rennen. China ist bereits der größte Handelspartner des Mercosur. Aber die lateinamerikanischen Partner wollen mit der EU zusammenarbeiten, und nicht unbedingt mit China. Und zwar eben weil es eine gemeinsame Werte-Basis gibt. NGOs widersprechen an dieser Stelle und verweisen darauf, dass dort Regenwälder abgeholzt und die indigenen Völker sehr schlecht behandelt werden. Das wird aber auch vor Ort kritisiert. Zugleich wollen sich die lateinamerikanischen Partner von der EU nicht alles vorschreiben lassen. Genau das ist das Dilemma. Die EU muss hier einen Weg finden, Hindernisse zu überwinden.

Die EU hat mit Global Gateway Ende 2021 schon ein eigenes Infrastrukturprojekt vorgestellt. Straßen, Häfen und Stromleitungen, Internetkabel und Solarparks sollen die Wirtschaft von Entwicklungs- und Schwellenländern voranbringen, es gibt eine Liste mit Dutzenden Leuchtturmprojekten. Wird die EU damit zum geoökonomischen Player?

Die EU betritt Neuland, und welchen Weg sie mit Global Gateway einschlägt, ist noch nicht erkennbar. Bisher ist meines Wissens noch kein Global-Gateway-Projekt realisiert, die Finanzierung ist noch unklar. Allerdings gibt es Anhaltspunkte, dass die Projekte auch offen für chinesische Investitionen sein sollen. Das wäre in meinen Augen ein Widerspruch in sich, wenn man es geopolitisch betrachtet, geradezu absurd.

Quelle:
manager-magazin

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