„Die GDL wird jetzt mehrere Wochen den Bahnverkehr lahmlegen“

Am Dienstag gibt die Lokführer-Gewerkschaft GDL das Ergebnis der Urabstimmung bekannt. Alles andere als ein Votum für den Streik wäre eine Sensation. Es dürfte ein langer Ausstand werden, denn der GDL geht es nicht nur um höhere Löhne. Im Zentrum des Streits steht etwas ganz anderes.

Das Flugblatt, das seit Dienstag bei der Deutschen Bahn (DB) verteilt wird, liest sich ungeheuerlich: „Erpressung auf dem Rücken der Flutopfer“, heißt es darauf. Die Lokführer-Gewerkschaft GDL wirft der Bahn vor, Druck auf ihre Mitglieder auszuüben, Überstunden oder Urlaubstage zugunsten der Opfer der Hochwasserkatastrophe zu spenden. „Kennt die DB keine Grenzen mehr in ihrem Feldzug gegen die GDL?“, fragt die Gewerkschaft.

Bei der Bahn widerspricht man: Niemand sei gedrängt worden, vielmehr habe das Unternehmen auf Wunsch einiger Mitarbeiter solche Spenden möglich gemacht, indem mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) eine entsprechende Vereinbarung geschlossen wurde, die GDL habe nicht zugestimmt. Die Vorwürfe seien „bodenlos“.

Das Flugblatt macht deutlich, wie vergiftet die Atmosphäre bei der Bahn derzeit ist. Der Vorsitzende der EVG, Klaus-Dieter Hommel, spricht von „ständiger Hetze“, seine Mitglieder würden von GDL-Kollegen unter Druck gesetzt und beleidigt. Mit Entspannung ist bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Der Machtkampf bei der Deutschen Bahn eskaliert gerade.

Existenzielle Bedrohung für die GDL
Seit Monaten tobt beim Staatskonzern nicht nur ein Tarifkonflikt, sondern vor allem ein Streit um Einfluss. Die Öffentlichkeit hat sich bislang wenig dafür interessiert, doch das wird sich jetzt ändern: Am Dienstag gibt die GDL das Ergebnis ihrer Urabstimmung bekannt. Danach droht dem Land ein massiver Bahnstreik. Es ist ein schier unlösbarer Konflikt, der in wenigen Tagen zu Chaos an den Bahnhöfen und Frust bei Reisenden führen dürfte – ausgerechnet im Urlaubsmonat August.

„Wir befinden uns nicht in einem normalen Tarifkonflikt“, sagt DB-Personalvorstand Martin Seiler WELT AM SONNTAG. „Es geht der GDL eigentlich um egoistische Machtinteressen und nicht um Lösungen für die Eisenbahner.“ Tatsächlich spielen nur vordergründig Lohnerhöhungen, Laufzeiten und Pausenregelungen eine Rolle.

Der Kern des Konflikts ist das Tarifeinheitsgesetz, das bei der Bahn angewendet werden soll. Es gilt unter Experten als „Lex GDL“, weil es als Reaktion auf die letzten Bahnstreiks erlassen wurde, bei denen die kleine Gruppe der Lokführer den kompletten Betrieb lahmlegen konnte, obwohl die Mehrzahl der Mitarbeiter der größeren EVG angehörte. Künftig sollte nur noch die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern Tarifverhandlungen führen dürfen – eine existenzielle Bedrohung für die GDL.

„Gewäsch des Lügenbarons“
Dass sich ein Streik noch abwenden lässt, glaubt deshalb niemand. „Wenn die GDL das Ergebnis der Urabstimmung mitgeteilt hat, halten wir es für sehr wahrscheinlich, dass es zeitnah zu Streikmaßnahmen kommen wird“, sagt Seiler. Einer der wenigen Punkte, in denen er sich mit GDL-Chef Claus Weselsky einig ist. „Unheimlich viele Mitglieder haben bei der Urabstimmung ihre Stimme abgegeben, ich gehe von einer Zustimmung zum Arbeitskampf oberhalb von 90 Prozent aus“, sagt Weselsky dieser Zeitung.

Auch zwischen den beiden Männern ist der Ton ungewöhnlich scharf. Weselsky bezeichnet die Aussage des Bahn-Personalchefs, dass man eine Lösung mit beiden Gewerkschaften finden könne, die eine Koexistenz sicherstellt, als „Gewäsch des Lügenbarons Seiler“. Es sei „schwierig bis unmöglich, so ein Abkommen zu schließen, aber wir verschließen uns Verhandlungen darüber nicht – allerdings erst nach Beendigung des Tarifkonflikts, weil beides nichts miteinander zu tun hat“.

Die EVG müsste einer solchen Regelung zustimmen, ein Interesse an einer Bestandsgarantie für die GDL hat dort allerdings niemand. So rasen die Beteiligten wie Züge auf dem gleichen Gleis aufeinander zu, die Kollision in Form eines sehr langen Arbeitskampfes ist kaum noch zu vermeiden. „Mir ist keine Limitierung bekannt, wie lange ein Streik dauern könnte“, droht Weselsky. Die Bahn werde alles tun, um einen Streik zu vermeiden, sagt Seiler. „Aber wenn wir in den Arbeitskampf gezwungen werden, müssen wir uns ihm stellen.“

„Bahn legt erst Feuer und setzt dann Märchen in die Welt“
So bleiben nur noch Appelle: Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) mahnt zur Besonnenheit. „Gerade jetzt brauchen wir ein Miteinander“, sagte er WELT AM SONNTAG. „Die Corona-Zeit hat die Bahn hart getroffen.“ Tatsächlich könnte der Streik für die DB kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen. Gerade erst kommen die Fahrgäste nach den Lockdown-Monaten zurück in die Züge, auch 2021 wird die Bahn einen Verlust von rund zwei Milliarden Euro verbuchen.

Auch deshalb wird das Management wohl versuchen, den Ausstand vor Gericht zu verhindern. „Man muss sich schon die Frage stellen, ob ein Streik in diesem Fall verhältnismäßig ist“, sagt Seiler. „Alle Beteiligten müssen sich an die Spielregeln halten. Sollte es der GDL um rechtswidrige Forderungen gehen, würden wir gegen einen Streik vorgehen.“ Denn streiken dürfen die Lokführer für mehr Gehalt, aber nicht gegen das Tarifeinheitsgesetz. Das weiß auch Weselsky: „Die Bahn legt erst Feuer und behauptet dann, es ginge uns um das Tarifeinheitsgesetz“, sagt er. „2014 hat die Bahn die gleichen Märchen in die Welt gesetzt, dass es uns nur um Machtinteressen ginge.“

Dennoch bestreitet auch Weselsky nicht, dass die Atmosphäre im Unternehmen durch den Grundsatzkonflikt gestört ist. „Natürlich ist draußen in den Betrieben der Ton rauer geworden“, sagt er. „Die Auseinandersetzung hat den Punkt erreicht, an dem es darum geht, wer in den Betrieben zukünftig die Tarifverträge verhandeln soll. Und die Eisenbahner treten in Scharen bei den anderen aus.“

GDL hat für 46 Prozent mehr Gehalt seit 2008 gesorgt
Experten halten das für das Hauptziel der GDL: Mitglieder gewinnen. „Und das gelingt nur, wenn sie Randale macht“, sagt Hagen Lesch, Tarifforscher am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Ähnlich beschreibt das der Gewerkschaftsforscher Wolfgang Schroeder vom Wissenschaftszentrum Berlin. „Die GDL hat sich als Vertreter der Basis inszeniert, die gegen die korrupten Oberen arbeitet, wobei die konkurrierende EVG als Teil des Establishments diffamiert wird.“

Für die Beschäftigten ist die Konkurrenz der Gewerkschaften nicht nachteilig. Berechnungen des IW zufolge stiegen die Löhne im GDL-Bereich seit ihrem ersten Tarifvertrag 2008 um 46 Prozent. Im Bereich der EVG waren es nur 40 Prozent. „Die Präsenz der GDL hatte natürlich auch einen positiven Effekt auf die Beschäftigten im EVG-Bereich“, sagt Tarifforscher Lesch. „Denn die Bahn war zu mehr Zugeständnissen an die EVG bereit, um den Konflikt zu befrieden.“ Die Deutsche Bahn widerspricht dem IW, es gebe keinen Unterschied bei der Gehaltsentwicklung zwischen den Einflussbereichen der beiden Gewerkschaften.

Künftig dürfte laut dem Tarifeinheitsgesetz nur noch die Gewerkschaft verhandeln, die in 71 Einzelbetrieben der DB mehr Mitglieder hat, in denen EVG und GDL beide aktiv sind. Das festzustellen, ist allerdings schwierig, denn der Arbeitgeber darf die Mitarbeiter nicht fragen, welcher Gewerkschaft sie angehören. Eine freiwillige Offenlegung hat die GDL abgelehnt, die Bahn schätzt, dass die Lokführer-Gewerkschaft nur in 16 Betrieben die Mehrheit stellt. „Das sollen mal die Gerichte entscheiden“, sagt Weselsky. „Wir haben in weit mehr als 16 Betrieben die Mehrheit, sogar in fast allen 71 Betrieben, in denen beide Gewerkschaften aktiv sind. Und wo wir sie noch nicht haben, da gewinnen wir Mitglieder.“

„So viel Fahrbetrieb wie möglich aufrechterhalten“
Dabei könnte ein Arbeitskampf mit gutem Lohnergebnis helfen. Tarifforscher Lesch rechnet nicht mit einer schnellen Lösung: „Die GDL wird jetzt mehrere Wochen den Bahnverkehr lahmlegen, und wenn dann der Unmut der Bevölkerung zu groß wird, werden beide Seiten sich schließlich zwangsläufig aufeinander zubewegen müssen.“ Darauf hofft auch das Bahn-Management. „Wir sind durch Corona und die Flutkatastrophe in einer ganz besonderen Situation“, sagt Seiler. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine hohe Akzeptanz in der Öffentlichkeit für einen Streik gäbe.“

Doch Weselsky hat bewiesen, dass er sich von öffentlichem Druck kaum beeindrucken lässt. „Wir werden alles tun, um so viel Fahrbetrieb wie möglich aufrechtzuerhalten“, sagt Seiler. Für viele Fahrgäste bleibt aber die Unsicherheit, ob sie ihre Reise antreten können.

Der DB-Personalvorstand beteuert, er würde sich trotzdem für Fahrten im August ein Bahn-Ticket kaufen: „Sollte es zum Streik kommen, würde die Bahn eine kulante Lösung finden.“ Es ist der zweite Punkt, in dem er sich mit Weselsky einig ist, der ebenfalls Urlaub mit der Bahn buchen würde: „Wenn der Zug dann allerdings wegen des Streiks nicht fahren würde, wäre ich verdammt sauer auf das Management und den Eigentümer der DB.“

Quelle:
Welt

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