Die Erfolgswelle der Reedereien bricht

Die Corona-Pandemie verwandelte die Containerschifffahrt in eine Industrie der Superlative. Aber die Gezeitenwende hat begonnen.

Für hohe Boni sind eigentlich eher die Banken bekannt, wie die Diskussion um die Saläre bei der untergegangenen Credit Suisse zeigt. Doch die finanziellen Zusatzvergütungen, welche die Mitarbeiter der taiwanesischen Containerreederei Evergreen für das vergangene Geschäftsjahr erhielten, würden selbst am Zürcher Paradeplatz für Erstaunen sorgen: So durften die rund 3100 Evergreen-Angestellten Boni in der Höhe von zehn Monatsgehältern entgegennehmen. Je nach individueller Performance wurden einige Mitarbeiter gar mit bis zu 50 Monatsgehältern entlöhnt.

Solche exorbitanten Salärausschüttungen mögen verwundern – allerdings wurden am Evergreen-Firmenhauptsitz in Taipeh, anders als am Paradeplatz, in den vergangenen zwei Jahren ausschliesslich Rekordumsätze und -gewinne generiert. Der Umsatz stieg 2022 um fast 30 Prozent, der Gewinn nach Steuern fällt mit rund elf Milliarden gar fast 40 Prozent höher aus als ein Jahr zuvor. Damit stellt das Unternehmen keineswegs die Ausnahme in der Containerschifffahrt dar, sondern vielmehr die Branchenregel.

Ein Traum für Anleger
Der Branchenboom sorgte auch für Reibach in der Schweiz. So durfte sich Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne, gebürtiger Hamburger mit Wohnsitz in Schindellegi SZ hoch über dem Zürichsee, über einen Milliardenzustupf für seine ohnehin schon vollen Kassen freuen. Denn der Mehrheitsbesitzer des Logistikkonzerns Kühne+Nagel ist seit mehreren Jahren auch Grossaktionär der in Hamburg ansässigen Frachtschifffahrtsgesellschaft Hapag-Lloyd, ihres Zeichens fünftgrösster Akteur in diesem Sektor.

Vergangenes Jahr beförderten die 253 Containerschiffe der Gruppe zwölf Millionen Standardcontainer, was den Hamburgern im Vergleich zum Vorjahr eine Umsatzsteigerung von 55 Prozent bescherte. Der Gewinn vor Steuern liegt bei 17,5 Milliarden Euro, im Vorjahr waren es noch 9,4 Milliarden.

Ein derart positives Ergebnis freut selbstverständlich auch die Anleger, allen voran Kühne, der mehr als 30 Prozent der Hapag-Lloyd-Aktien hält. Deren Allzeit-Höchstwert lag im Mai 2022 bei stolzen 474,60 Euro. Vergangenes Jahr erhielt Kühne für seine Anteile eine Rendite von rund 3,3 Milliarden Euro. Der 85-Jährige schaffte es im letztjährigen Reichsten-Ranking von BILANZ mit einem Vermögen von geschätzten 24 Milliarden auf den vierten Platz. Laut aktuellen Medienschätzungen ist sein Vermögen inzwischen um mehrere Milliarden Franken angewachsen.

In ebendiesen exklusiven Top Ten erhielt Kühne im vergangenen Jahr neue Gesellschaft: Erstmals platzierte sich die in Genf wohnhafte Familie Aponte auf dem sechsten Rang, mit einem damals geschätzten Vermögen von 19 bis 20 Milliarden Franken. Ihr Aufstieg in den Olymp des Schweizer Geldadels lässt sich direkt auf die turbulente Situation im internationalen Containertransport zurückführen – denn den Apontes gehört die Mediterranean Shipping Company (MSC). Und genau dieses Unternehmen, das nebst der Frachtschifffahrt unter anderem auch im Kreuzfahrtsegment tätig ist, konnte sich 2022 zur grössten Container-Reederei der Welt aufschwingen. Unter der Flagge der MSC-Gruppe laufen mehr als 730 Schiffe 520 Häfen in 155  Ländern an, weltweit beschäftigt MSC laut eigenen Angaben 150’000 Mitarbeitende.

Family Business only
Der Sprung an die Spitze bescherte auch den MSC-Gründern Gianluigi und Rafaela Aponte einen veritablen Geldsegen: Eine aktuelle Medienschätzung beziffert das Vermögen der beiden auf mittlerweile jeweils 28 Milliarden Dollar. Damit dürfte sich Rafaela Aponte als reichste Selfmade-Unternehmerin der Welt bezeichnen. Die Erfolgsstory des Ehepaars nahm 1970 ihren Anfang, als die beiden mit einem Kredit von 200’000 Dollar ihr erstes Schiff kauften und ihr Unternehmen MSC in Genf gründeten.

Heute handelt es sich bei MSC um die grösste Reederei der Welt, und die Geschicke der Gruppe befinden sich noch immer in fester Familienhand: Gründersohn Diego Aponte amtet als Vorsitzender, während Tochter Alexa Aponte Vago für die finanziellen Belange verantwortlich zeichnet. Apropos Finanzen: Über die exakten Umsätze und Gewinne des frischgebackenen Branchenprimus kann nur spekuliert werden. Die Familie gilt als verschlossen und schweigt sich zu derartigen Kennzahlen eisern aus.

Aufschluss liefert allerdings der Vergleich mit der dänischen Reederei A.P.  Møller–Mærsk, die im letzten Jahr die Poleposition in der Containerschifffahrt an MSC abtreten musste. Trotz des Prestigeverlustes hielt das Jahr 2022 auch für die neue Nummer zwei der Branche mehrere Superlative bereit: Laut Jahresbericht konnte der Umsatz um 32 Prozent auf über 80 Milliarden Dollar gesteigert werden, der Gewinn stieg um 57 Prozent auf 31 Milliarden Dollar an.

Zur Einordnung: Im vergangenen Geschäftsjahr konnten die Dänen rund achtmal so viel Gewinn erwirtschaften wie noch 2020. Da die öffentlich zugänglichen Kennzahlen von MSC mit denjenigen von A.P.  Møller–Mærsk vergleichbar sind, dürften sich Umsatz und Gewinn in einem ähnlich hohen Rahmen bewegen.

Worauf lassen sich die aussergewöhnlichen Erfolge in der Containerschifffahrt zurückführen? Der zentrale Treiber war die Corona-Pandemie. Sie befeuerte die weltweite Nachfrage nach Gütern aller Art, was in Kombination mit diversen Einschränkungen zu angespannten Lieferketten führte. «Hinzu kommt die Tatsache, dass die Unternehmen in diesem Sektor von einer langwierigen strukturellen Schifffahrtskrise zehrten», sagt Burkhard Sommer, Direktor und Deputy Head des Maritime Competence Center von PwC Deutschland. «Weil häufig das notwendige Kapital fehlte, um die Flotten zu erweitern, konnte die Branche dann auf die abrupt steigende Anfrage nicht angemessen reagieren.» Die in der Folge entstehende Verknappung der Transportkapazitäten liess die Frachtraten, sprich die Preise für den Transport von Waren über die Weltmeere, in ganz neue Sphären emporschnellen.

Am Freightos Baltic Global Container Index (FBX), einer essenziellen Benchmark für die Transportpreise über den Seeweg, lässt sich der explosive Branchenboom ablesen: Zwischen März 2020 und September 2021 stieg dieser um das Siebenfache an, der Rekordwert lag bei über 11’000 Dollar. Zum Vergleich: Im Dezember 2019 belief sich der FBX auf 1400 Dollar. Dieser enorme Preisanstieg liess bei sämtlichen Linien-Containerreedereien die Kassen in nie zuvor gekanntem Ausmass klingeln.

Derartige Erfolgsgeschichten wecken aber auch neue Begehrlichkeiten und führen nun zu einem Bruch zwischen den Giganten: Anfang Jahr gaben MSC und A.P.  Møller–Mærsk bekannt, dass der 2015 besiegelte Zusammenschluss «2M» per 2025 definitiv aufgelöst wird. Die beiden weltgrössten Marktplayer hatten die Allianz ursprünglich geschmiedet, um in der kapitalintensiven Branche dringend benötigte Synergien zu schaffen.

Eine solche Kooperation galt vor einigen Jahren noch als überlebensnotwendig in der krisengeschüttelten Welt der Frachtschifffahrt. Doch die gewaltigen Finanzspritzen durch die Pandemiejahre sowie umfassende Investments in die eigenen Flotten haben diese Probleme verblassen lassen. Wie es in der Branche heisst, sehen die Akteure keinen Grund mehr, zusammenzuspannen und die Gewinne zu teilen, wenn sie den Bedarf der Kunden künftig auch allein bedienen können. Denn die Nachfrage nach Transportdienstleistungen über die Weltmeere nimmt bereits wieder ab.

Parallel zu den Corona-Fallzahlen flachen die Rekordumsatzkurven der Reedereien mittlerweile wieder ab. Experten gehen davon aus, dass die weltweite Frachtschifffahrt in diesem Jahr zur Normalität zurückkehren wird. Auch Klaus-Michael Kühne wird darum heuer mit seinen Hapag-Lloyd-Anteilen merklich tiefere Renditen einfahren: Fast genau ein Jahr nach dem bereits erwähnten Allzeit-Höchststand von 474.60 Euro ist die Aktie Anfang Mai auf unter 200 Euro gefallen. Dies bedeutet im Vergleich zum letztjährigen Rekordwert einen Kursverlust von über 50 Prozent.

Von dieser Strömung bleibt auch A.P.  Møller–Mærsk nicht verschont: Im Januar 2022 verzeichnete die A-Aktie der dänischen Firma einen Wert von umgerechnet 3056 Franken. Per Mai 2023 liegt der Wert noch bei etwas mehr als der Hälfte.

Doch nicht nur die Finanzmärkte machen die Gezeitenwende in der Frachtschifffahrt augenfällig, sondern auch die vorsichtig-pessimistischen Prognosen der Marktteilnehmer selbst: Rolf Habben Jansen, der Konzernchef von Hapag-Lloyd, spricht von einem «deutlichen und unausweichlichen Ergebnisrückgang». Konkret erwarte man fürs laufende Geschäftsjahr 2023, dass sich der Vorsteuergewinn (Ebit) in einem Spektrum von zwei bis vier Milliarden Euro bewegen wird. Zwischen dieser Prognose und den Kennzahlen von 2021 und 2022 liegen Welten.

Die Gründe für die sinkenden Gewinne lassen sich auf die gleichen Prozesse und Wechselwirkungen zurückführen, die vor etwas mehr als zwei Jahren den Boom in der Frachtschifffahrt eingeläutet hatten: Im Kern zeichnet sich die heutige Post-Covid-Ära durch eine sinkende Güternachfrage bei gleichzeitig höherer Verfügbarkeit aus. Geopolitische Spannungen, der Ukraine-Krieg und die inflationäre Wirtschaftslage dämpfen die Gewinnerwartungen der Branche zusätzlich.

«Die Abkühlung der Konjunktur hat die Marktbedingungen in der Containerschifffahrt binnen weniger Monate gänzlich verändert», fasst Hapag-Lloyd-CEO Habben Jansen zusammen. Man sehe auf manchen Routen wieder Frachtraten, die sich auf dem Niveau von vor dem Pandemieausbruch bewegten, während die Kosten für die Reedereien aufgrund von Störungen der Lieferketten sowie inflationsbedingt deutlich angestiegen seien.

Steigende Kosten
Der FBX gibt dem Konzernchef der deutschen Reederei recht: Vom erwähnten Rekordwert von mehr als 11’000 Dollar im September 2021 kann die Branche nur träumen. Lautet das Motto in der Containerschifffahrt demnach «Alles zurück auf Anfang»?

«Ein Trend besteht in der Tat darin, dass sich die Fracht- und Charterraten nach einem starken Rückgang wieder einpendeln», führt Burkhard Sommer aus. Allerdings müssten sich die Schifffahrtsriesen mit höheren Betriebskosten sowie einem schrumpfenden Frachterlös arrangieren, hält der PwC-Logistikexperte fest. Diese Preissteigerungen ergeben sich unter anderem durch höhere Kosten für Energie, Treibstoff und Gehälter. «Und auch in diesem Segment macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar», sagt Sommer.

Die Branche könnte kurzfristig sogar unter die Frachtraten von vor der Pandemie fallen, dürfte sich anschliessend allerdings im gewohnten Spektrum stabilisieren. Die steilen Umsatzpeaks aus der Pandemiezeit dürften demnach die Ausnahme bleiben.

Quelle:
Handelszeitung

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