Lieferketten: Industrie und Handel wieder im Alarmmodus

Bisher gibt es keine unmittelbaren Anzeichen für größere Engpässe als Folge der Krise im Roten Meer. Doch die Situation könnte sich Experten zufolge noch verschärfen. In den kommenden Wochen dürfte sich daher zeigen, wie resilient sich Hersteller und Händler zuletzt tatsächlich aufgestellt haben.

Die jemenitischen Huthi haben nach US-Angaben erneut ein Containerschiff im Roten Meer angegriffen. Das zuständige Regionalkommando des US-Militärs teilte am Montagnachmittag auf X (ehemals Twitter) mit, die Rebellen hätten eine ballistische Antischiffrakete auf die M/V Gibraltar Eagle abgefeuert. Sie wurde demnach aus von Huthi kontrollierten Gebieten im Jemen abgeschossen. Bei dem Schiff handelte es sich den Angaben zufolge um einen unter der Flagge der Marshallinseln fahrenden US-Frachter. Es habe weder Verletzte noch Schäden gegeben.

Seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges zwischen Israel und der islamistischen Hamas greifen die Huthi-Rebellen immer wieder Schiffe mit angeblich israelischer Verbindung auf der für die Lieferketten wichtigen Schifffahrtsroute an. Große Reedereien meiden diese zunehmend.

Drohen wie schon zu Zeiten der Corona-Krise sowie der „Ever Given“-Havarie im Suezkanal vorübergehende Produktionsstopps oder auch Bestands- und Regallücken im Handel? Vereinzelt ist dies bereits der Fall. So muss der Autobauer Volvo seit Montag für drei Tage die Produktion im belgischen Gent aussetzen. Grund dafür seien Verzögerungen bei der Lieferung von Getrieben infolge der Krise im Roten Meer, sagte eine Sprecherin. „Weil die Schiffe umgeleitet werden müssen, haben wir die Teile im Moment nicht.“ Zuvor hatte bereits Tesla mitgeteilt, die Produktion in Grünheide bei Berlin vom 29. Januar bis 11. Februar weitgehend stoppen zu müssen, da die Umleitung vieler Schiffe auf die Route um das Kap der Guten Hoffnung eine Lücke in die Bauteil-Lieferkette gerissen hat. Aufgrund des Stillstands werden rund 18.000 Fahrzeuge weniger produziert.

Autoexperte Prof. Ferdinand Dudenhöffer, Geschäftsführer des Center Automotive Research in Bochum, sieht den Grund für den Ausfall in dem intensiven Austausch mit einem Werk in Shanghai für Teile und vor allem Batterien ist. Auch bei anderen Autobauern in Deutschland hält es Dudenhöffer für möglich, dass es überwiegend bei Elektroautos, also Batterien und Zellen zu Lieferengpässen kommen könnte. Hinsichtlich der globalen Handelswege sieht er in der neuen Seidenstraße-Initiative eine zuverlässige Landverbindung zu China und Anrainern. Die One-Belt-One-Road-Initiative sei „nicht das schlechteste zur Absicherung“.

BMW: „Wir erwarten keine Ausfälle“
Bei den deutschen Herstellern zeichnen sich derzeit offenbar noch keine gravierenden Engpässe ab. „Die Produktion läuft nahezu uneingeschränkt. Wir stehen im engen Austausch mit unseren Logistikdienstleistern und Lieferanten und beobachten die Situation kontinuierlich“, sagt eine Sprecherin von Mercedes-Benz. Bei BMW habe die Situation im Roten Meer keinerlei Beeinträchtigungen auf die Produktion. „Die Versorgung unserer Werke ist sichergestellt“, sagt eine Sprecherin. Sie betont ebenfalls den engen Austausch mit den Logistikpartnern. „Wir erwarten keine Ausfälle“, fügt sie hinzu.

„Die Marke Volkswagen Pkw rechnet nach heutigem Stand mit keinen nennenswerten Produktionseinschränkungen in ihren Werken“, sagt ein Konzernsprecher auf Anfrage. Volkswagen stehe in enger Abstimmung mit den Reedereien und beobachte die Situation genau, um Auswirkungen auf die Produktion und Marktversorgung abzuschätzen und – soweit möglich – zu vermeiden. „Fast alle großen Reedereien haben bereits im Dezember damit begonnen, ihre Schiffe umzuleiten. So kann sichergestellt werden, dass die Fracht – wenn auch leicht zeitverzögert – ihr Ziel erreicht“, fügt er hinzu.

Beim in der Transport- und Kontraktlogistik für die Autoindustrie tätigen Mittelständler Walter Schmitt aus Bietigheim (Logistik Schmitt) sind bisher keine aktuellen Auswirkungen der Krise im Roten Meer bekannt. Allerdings seien Verzögerungen in den Lieferketten zum Dauerthema geworden, teilt Geschäftsführer Rainer Schmitt der DVZ mit. Nach Einschätzung des Unternehmens sind die Ausfälle in den Produktionen eher dem mangelnden Absatz geschuldet. „Offensichtlich wird aber generell in den Werken wieder verstärkt auf die monetäre Bestandsentwicklung geachtet, sprich es werden Lagerstufen eher reduziert“, fügt Schmitt hinzu.

Stefanie Kotschenreuther, Leiterin Key Account Management beim Logistikdienstleister Elflein, ist sehr optimistisch, dass die Automotive-Kunden frühzeitig reagieren und Maßnahmen einleiten. Alle Beteiligten hätten aus der Vergangenheit viel gelernt. „Der Schlüssel ist und war eine offene und transparente Kommunikation – intern wie extern“, fügt sie hinzu. Ein gut eingespieltes Managementteam sei unerlässlich. „Für uns sind es nur ein paar Handgriffe, einen Maßnahmenplan umzusetzen, unsere Kapazitäten zu überplanen und entsprechend zu organisieren.“

Experte sieht deutsche Autobranche gut aufgestellt
Obwohl also die deutschen Automobilhersteller bisher keine negativen Auswirkungen auf ihre Lieferketten spüren, warnt Prof. Klaus-Jürgen Schmidt, Leiter Consulting und Gesellschafter des Instituts für Produktions- und Logistiksysteme in Saarbrücken: „Die Situation im Roten Meer und die daraus resultierenden Umleitungen der Handelsschifffahrt haben sicher aktuell potenziell erhebliche Auswirkungen auf die Lieferketten der deutschen Automobilindustrie“. Zugleich betont er, dass Unternehmen, einschließlich der Automobilindustrie, in den vergangenen Jahren ihre Lieferketten robuster gestaltet haben. Dazu haben frühere Ereignisse wie die Sperrung des Suezkanals 2021, die Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg geführt.

Bisher gibt es keine unmittelbaren Anzeichen für größere Engpässe. „Jedoch könnte sich die Situation verschärfen, insbesondere aufgrund der geschlossenen Fabriken in China während des Neujahrsfestes, was die Verfügbarkeit von Containern beeinflussen könnte“, sagt Schmidt auf DVZ-Anfrage. Die steigenden Seefrachtraten als Folge der Angriffe könnten sich ebenfalls auf die Kostenstruktur der Automobilhersteller auswirken. Insgesamt sieht Schmidt den Wirtschaftsbereich gut aufgestellt. „Die deutsche Automobilindustrie hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie in der Lage ist, sich an unterschiedliche Herausforderungen anzupassen. Dies umfasst sowohl die Diversifizierung der Lieferquellen als auch die Anpassung der Logistikstrategien.“ Vorausschauende Planung und Flexibilität in der Lieferkette seien entscheidend, um potenzielle Störungen zu bewältigen. Dies könnte auch den verstärkten Einsatz von Luftfracht als Alternative zur Seefracht beinhalten, um kritische Teile schneller zu transportieren.

Darüber hinaus müssten Unternehmen ein effektives Risikomanagement betreiben, um potenzielle Störungen zu identifizieren und abzumildern. Dies beinhaltet die Bewertung der Auswirkungen von geopolitischen Spannungen auf die Lieferketten. Zu den langfristigen Strategien gehören Schmidt zufolge der Aufbau von Sicherheitsbeständen, die Diversifizierung der Lieferantenbasis und die Investition in lokale oder regionale Produktionskapazitäten. Und schließlich könne auch die Politik zur Sicherung von globalen Handelswegen beitragen. Schmidt: „Die deutsche Automobilindustrie könnte von einer stärkeren Beteiligung der Bundesregierung und anderen internationalen Akteuren zur Sicherung des Seeweges profitieren.“

BME: Einkauf hat aus Krisen gelernt
Nach Einschätzung des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik sind die Lieferketten in den vergangenen Jahren deutlich widerstands- und anpassungsfähiger geworden. Grund: „Unternehmen und ihre Einkaufsabteilungen haben aus vergangenen Krisen gelernt und wichtige Anpassungen in ihren Geschäftsabläufen vorgenommen“, stellt BME-Hauptgeschäftsführerin Helena Melnikov fest. „Durch fortschrittliche Analysetools im Risikomanagement, die Flexibilisierung von Produktionsprozessen, die Diversifikation der Lieferanten und den Einsatz digitaler Technologien wie KI und IoT sind viele Firmen heute besser aufgestellt, um auf unvorhergesehene Ereignisse schnell reagieren zu können.“ Die Corona-Pandemie und die zahlreichen Krisen danach hätten die Bedeutung eines effektiven Krisenmanagements und kontinuierlichen Lernprozesses vor allem im Einkauf sehr verdeutlicht.

Kurzfristig erwartet der BME keine Engpässe. „Viele Unternehmen haben aus der Schiffshavarie der Ever Given im Suezkanal gelernt und halten Ihre Lagerbestände so hoch, dass sie kurzfristig längere Transportwege covern können“, erklärt Melnikov. Sollte der Konflikt im Roten Meer allerdings eskalieren und länger andauern, stelle er für die Firmen ein ernstzunehmendes Risiko mit Handlungsbedarf dar.

Wie ist die Lage in einzelnen Industriesegmenten? Unmittelbare Auswirkungen auf die Unternehmen der Elektro- und Digitalindustrie seien derzeit nicht bekannt, teilt der Hightech-Fachverband ZVEI auf DVZ-Anfrage mit. Die Störung der Handelsschifffahrt stelle aber die globalen Lieferketten erneut auf die Probe. Diese hätten sich zwar zuletzt entspannt, seien aber noch nicht auf dem Niveau wie vor der Pandemie.

Maschinenbau mit weniger Just-in-Time
Ob es bei den Maschinenbaun zu Lieferengpässen kommen könnte, ist derzeit noch nicht absehbar. Vorlauf- und Auftragsabwicklungszeiten für Bestellungen im Maschinen- und Anlagenbau sind deutlich länger als beispielsweise in der Konsumgüterindustrie. „Aktuell haben wir keine Erkenntnisse, dass Maschinenbaufirmen aufgrund der Angriffe der Huthis bereits neue Lieferengpässe verbuchen müssen“, sagt Thilo Brodtmann Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen und Anlagenbau (VDMA). „Allerdings sind Just-In-Time Lieferungen in unserer Branche auch nicht so stark verbreitet wie in anderen Industrien – und viele Maschinenbaufirmen haben in den letzten Jahren dort, wo es möglich war, ihre Bestände hochgefahren. Daher würden die direkten Folgen der aktuellen Angriffe auch erst mit einiger Verzögerung spürbar.“

Die längeren Seewege, die große Reedereien nun aufgrund der Bedrohungslage im Roten Meer nehmen, dürften sich aber in erhöhten Kosten niederschlagen. „Gerade im Bereich Elektrik und Elektronikkomponenten, wo die Engpässe der Vergangenheit sich immer noch nicht vollständig aufgelöst haben, ist eine temporäre neuerliche Anspannung der Liefersituation daher durchaus vorstellbar“, betont Brodtmann.

Nonfood-Sortimente besonders gefährdet
Betroffen von der angespannten Situation im Roten Meer könnte auch der Handel sein. Zuletzt hatte der Möbelkonzern Ikea vor Lieferverzögerungen gewarnt. Der Handelsverband Deutschland (HDE) hingegen rechnet nicht mit größeren Engpässen. Unternehmen hätten ihre Lieferketten breiter aufgestellt. „Dazu gehören verschiedene Beschaffungsgebiete, eine erhöhte Lagerhaltung oder auch Alternativprodukte für den Bedarf“, sagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth am Freitag.

Handelslogistik-Experte Prof. Christoph Tripp meint: „Abhängig von der Dauer des Konflikts, werden auch Handelsunternehmen die Konsequenzen in Form von Nicht-Verfügbarkeit und Lieferverzögerungen zu spüren bekommen“. Betroffen sein würden vor allem die Nonfood-Sortimente im Einzel- und Großhandel, wie zum Beispiel Elektronik, Textilien, Baumarktartikel und Aktionswaren, die überwiegend in Asien beschafft werden.

Aufgrund der zum Teil schwierigen wirtschaftlichen Situation haben Rationalisierungs- und Kostensenkungsmaßnahmen Tripp zufolge bei vielen Händlern derzeit oberste Priorität. „Bestands- und Transportkostenreduzierungen sowie umfassende Kundenbindungsmaßnahmen genießen daher einen höheren Stellenwert als Investitionen in die langfristige Absicherung von – vermeintlich unwahrscheinlichen – Risiken.“

Quelle:
DVZ

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