Brüchige Lieferketten: Türkei wird zum Fluchtpunkt deutscher Firmen

Das Land am Bosporus profitiert von Russlands Krieg und Chinas Lieferschwierigkeiten. Deutsche Logistiker rüsten auf – doch es gibt ein großes Risiko.

Erst wurden die Lieferketten aus Fernost durch Corona unterbrochen, dann kam der Ukrainekrieg: Die weltweiten Versorgungsengpässe machen die Türkei überraschend zu einem begehrten Fluchtpunkt deutscher Im- und Exporteure. Für immer mehr Logistiker gewinnt das Land unmittelbar vor den Toren der Europäischen Union für die Warenversorgung massiv an Bedeutung.

„Wir stellen fest, dass Unternehmen ihre Betriebe aus Asien wieder in die Nähe Europas verlagern wollen“, bestätigt Tobias Bartz, Vorstandsvorsitzender des westfälischen Speditionskonzerns Rhenus. „Die Türkei mit ihrer sehr jungen und relativ gut ausgebildeten Bevölkerung ist da ein idealer Standort für Produktion und Handel.“

Rhenus, eine sieben Milliarden Euro Umsatz schwere Tochterfirma der Rethmann-Gruppe, eröffnete schon 2020 zwei Logistikterminals bei Istanbul, eines auf europäischem, das andere auf asiatischem Boden. Doch dabei soll es nicht bleiben. „Wir investieren gerade stark in den Ausbau unserer türkischen Logistikleistungen“, berichtet Bartz. Zwar sei man mit 14 Niederlassungen flächendeckend im Land vertreten. „Doch wir planen mit einer Verdopplung unserer Aktivitäten bis 2024“, sagt er.

Thilo Pahl, Geschäftsführer der Auslandshandelskammer (AHK) Türkei in Istanbul, sieht bei vielen Expansionswilligen vor allem den geografischen Vorteil als Grund für den Investitionsboom. „Das Potenzial für einen erweiterten Handelskorridor aus Asien über die Türkei nach Europa ist da“, sagt er.

Dass es insbesondere der Ukrainekrieg ist, der Unternehmen zu einer Ansiedlung in der Türkei veranlasst, belegt die Statistik ausländischer Direktinvestitionen in Kleinasien. Noch zwischen Dezember 2021 und Februar 2022 schrumpften sie angesichts der galoppierenden Inflation in der Türkei auf ein Viertel des vorherigen Niveaus. In diesem Zeitraum hatte die Teuerungsrate von 21,3 auf 54,4 Prozent zugelegt, was viele Projekte unrentabel machte.

„Nearshoring“ – kurze Lieferwege liegen im Trend
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine änderte sich das drastisch – obwohl die Inflation seither weiter auf 80,2 Prozent kletterte. Kamen im Februar 2022 gerade einmal 464 Millionen Dollar an ausländischen Direktinvestitionen zusammen, stieg der Wert Monat für Monat in mächtigen Schritten. Im Juni, dem letzten gemeldeten Monat, ermittelte die türkische Zentralbank einen Wert von 1,7 Milliarden Dollar.

Der Fachbegriff hinter dieser Neuausrichtung der Lieferketten lautet „Nearshoring“. Kaum ein Logistik- oder Einkäuferkongress, auf dem das Wort nicht die Runde macht. Anstelle einer billigen, aber unsicheren Belieferung aus Übersee sind nun kurze Wege gefragt. Viele Einkaufsabteilungen wollen die Waren von Orten beziehen, die im Notfall auch per Bahn oder Lkw zu erreichen sind.

Viele türkische Firmenlenker witterten früh ihre Chancen auf Neugeschäft und gründeten gleich zu Pandemiebeginn neue Abteilungen. Statt in den Lockdown zu gehen, beschäftigten sich die Manager damit, Lücken in den weltweiten Lieferketten ausfindig zu machen – und diese mit türkischen Produkten zu füllen. „Jetzt ist nicht die Zeit fürs Geldverdienen“, hatte damals der Präsident der Istanbuler Handelskammer mitgeteilt, „sondern um Marktanteile zu vergrößern“.

Mit Erfolg: Die türkischen Exporte sind in den vergangenen zwei Jahren stetig angestiegen – obwohl ihnen die Inflation das Geschäft erschwerte. So lagen die Warenausfuhren 2021 mit 225 Milliarden US-Dollar exakt ein Drittel über Vorjahr und doppelt so hoch wie 2010. Importierte die EU im Juni 2021 Waren im Wert von 6,39 Milliarden Dollar aus der Türkei, waren es im Juni 2022 schon 8,85 Milliarden.

Daran wollen offenbar auch deutsche Firmen partizipieren. So sind es vor allem deutsche Maschinenausrüster, die derzeit in der Türkei auf Neugeschäft hoffen. Im Juli 2020 zog es den Automotive-Entwickler EDAG, einen Ingenieurdienstleister aus Fulda mit knapp 8000 Mitarbeitern, an den Bosporus, im Oktober 2021 folgte der Holzbearbeitungsmaschinen-Hersteller SCM mit einer eigenen Niederlassung in Istanbul.

Der Werkzeugmaschinen-Hersteller SHW, ein Unternehmen mit 210 Mitarbeitern auf der Schwäbischen Alb, eröffnete Anfang 2022 im türkischen Bursa einen Servicestützpunkt. „Der türkische Markt bietet Chancen“, kommentierte Firmenchef Martin Greis die Neueröffnung. „Auch wenn die türkische Wirtschaft mit Verwerfungen zu kämpfen hat, werden unsere Werkzeugmaschinen gut nachgefragt.“

Experten sehen Verlagerung von Fernost Richtung Türkei
Dass die ganz großen Namen auf der Liste der Neueröffnungen fehlen, hat einen simplen Grund. „Zahlreiche Firmen sind längst da“, berichtet Hakan Akyol, türkischer Landeschef der Transportfirma EP Intermodal, die indirekt dem tschechischen Metro-Großaktionär Daniel Kretinsky untersteht. Ihr Umschlag in der Türkei wachse seit Monaten derart stark, dass die Zoll-Lager an der Istanbuler Meerenge nicht mehr ausreichten. „Neue Lagerhallen sind im Bau“, berichtet Akyol.

Groß im Geschäft sind am Bosporus beispielsweise deutsche Konzerne wie Siemens, B. Braun, Dräger, Linde oder Jungheinrich. Auch der Lkw-Ausrüster Schmitz Cargobull, der früher seine Trailer über eine externe Vertriebsgesellschaft in der Türkei verkaufte, baut sie dort inzwischen selbst zusammen. Man rechne mit einem guten Wachstum, gibt sich Firmenchef Andreas Schmitz auf Anfrage zu seinem Türkei-Engagement optimistisch.

Logistikexperte Akyol bestätigt den Trend. „Wir beobachten“, sagt er, „dass ein erheblicher Teil europäischer Firmen derzeit Geschäftsaktivitäten von Fernost in die Türkei verlagert.“ Als Folge verzeichne man „erhebliche Bewegungen“ im Transportmarkt.

Auch Alper Kanca, Chef eines gleichnamigen türkischen Automobilzulieferers, sieht vermehrtes Interesse aus Deutschland. Als Beispiel nennt er die Anfrage eines großen deutschen Automobilzulieferers vor wenigen Tagen, der nach sieben Jahren plötzlich um ein neues Angebot bat. „Damals waren wir zu teuer, und die deutsche Firma hatte einer chinesischen Firma den Zuschlag gegeben.“

Jetzt habe die deutsche Firma, deren Namen Kanca nicht nennen möchte, innerhalb weniger Wochen dem türkischen Geschäftsmann den Auftrag gegeben. Kanca räumt ein, dass es zwar keine Milliardenaufträge seien, die türkische Firmen jetzt abgreifen würden. „Aber für einen Mittelständler wie uns sind das stattliche zusätzliche Aufträge, die wir nun erhalten.“

Die Türkei bezieht weiter russisches Gas
Nicht allein die geopolitische Lage kommt der Türkei in diesen Tagen zugute. Der galoppierenden Inflation zum Trotz wirbt das Land aktuell mit handfesten Vorteilen für die Wirtschaft. Zum einen nimmt es nicht an den Sanktionsmaßnahmen gegen Russland teil. Weil Ankara das Gas in Rubel zahlt und russische Kreditkarten akzeptiert, bleibt die Energieversorgung stabil. Zum anderen gewinnen türkische Häfen zunehmend an Bedeutung als Drehscheibe am Schwarzen Meer – und das nicht nur für Getreideexporte aus der Ukraine. Selbst Stahlausfuhren aus dem russischen Noworossijsk nach Polen, die wegen der Kriegsereignisse nicht mehr durch Belarus und die Ukraine befördert werden können, werden nach Informationen des Handelsblatts jetzt am Bosporus vom Schiff auf die Bahn verladen.

Die durch den Ukrainekrieg blockierten Transportwege über Russland, Belarus und die Ukraine machen die Türkei zu einem begehrten Transitland auch für deutsche Logistiker. So führt der alternative „Mittlere Korridor“ der Neuen Seidenstraße, die China mit Europa verbindet, über Kasachstan, das Kaspische Meer, Aserbaidschan und Georgien in die Türkei. Und das per Eisenbahn.

Am türkischen Grenzort nahe der Stadt Kars eröffnete Rhenus bereits 2019 ein Logistikzentrum, das nun gefragt ist wie selten zuvor. „Die Türkei wird von den gegenwärtigen Lieferkettenprobleme zwischen Asien und Europa profitieren“, ist sich Firmenchef Bartz sicher.

Für den Erfolg hat die türkische Regierung einiges in den Mittleren Korridor investiert – auch zusammen mit chinesischen Investoren. 2016 vollendete sie im Süden von Istanbul den 31 Kilometer langen Marmaray-Tunnel, der Asien und Europa auch auf dem Schienenweg verbindet. Auch wenn er nur nachts zwischen ein und fünf Uhr für den Güterverkehr geöffnet ist, erlaubt er eine lückenlose Zugverbindung von Kleinasien bis an die Ostsee.

Erst am vergangenen Wochenende schaltete sich die tschechische Bahngesellschaft Metrans, ein Tochterunternehmen der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA), auf diese Bahnverbindung auf. Am 3. September verließ der erste Containerzug das Metrans-Terminal Dunajska Streda in der Slowakei Richtung Istanbul. Zunächst seien zwei wöchentliche Rundläufe geplant, heißt es dazu in Hamburg.

In den vergangenen 20 Jahren baute die Türkei nicht weniger als 1085 Kilometer an neuen Schienenwegen, 6455 Kilometer alte Schienenwege wurden erneuert. Der Logistik-Masterplan des Landes sieht vor, dass in den kommenden zehn Jahren alle See- und Flughäfen mit Bahnterminals ausgestattet werden.

Noch dulden Europäer und Amerikaner die türkische Sonderrolle
Doch die Flucht der deutschen Wirtschaft nach Anatolien ist kein Selbstläufer. Denn zu dem geografischen Vorteil gesellen sich immer stärker ein geopolitisches Risiko und ein Sanktionsrisiko, erklärt AHK-Geschäftsführer Pahl. „Die wirtschaftliche Annäherung an Russland hat für einige Irritationen in Europa gesorgt. Gegensanktionen aus der EU oder den USA könnten die türkische Wirtschaft und die deutschen Unternehmen vor Ort hart treffen“, meint er.

Anzeichen für derartige politische Spannungen gibt es bereits. So erinnerten die USA die Türkei daran, dass sie ihre Sanktionen gegen Russland auch auf ausländische Unternehmen ausweiten könnten, die mit russischen Firmen weiter Geschäfte betreiben. Ein Wink mit dem Zaunpfahl an alle Unternehmen in dem Land, die gerade viel Geld damit verdienen, importierte Waren umzuschiffen und unter neuer Flagge nach Russland zu transportieren.

Gerade die kommende Heizsaison könnte diese Debatte weitertreiben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte Anfang der Woche noch erklärt, sein Land habe keine Probleme mit Gaslieferungen. „Europa wird im Winter in eine tiefe Krise geraten“, sagte Erdogan und fügte mit Blick auf die europäischen Sanktionen gegen Russland hinzu: „Die Europäer ernten, was sie zuvor gesät haben.“

Sollte es tatsächlich in Europa zu Gasengpässen im Winter kommen, könnte der politische Druck aus Europa gegen Erdogan zunehmen, sich den Sanktionen anzuschließen. Und dann müssten auch die deutschen Firmen im Land sich genau überlegen, wie lukrativ ihr Geschäft noch ist.

Quelle:
Handelsblatt

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